Nachdenklich betrachtete er sein Opfer, das bewusstlos und in sich zusammengesunken auf dem Stuhl direkt vor ihm saß. Das Kinn des Mannes ruhte auf seiner Brust, die Augenlider waren geschlossen, sein linkes Auge war zwischenzeitlich vollkommen zugeschwollen. Die Unterlippe war aufgeplatzt und aus der Verletzung unterhalb der linken Augenbraue quoll noch immer frisches Blut. Seine Nase war allem Anschein nach gebrochen. Nur wenn er ganz genau hinsah, konnte er erkennen, wie sich der Brustkorb seines Opfers langsam hob und wieder senkte.
Am liebsten hätte er ihn sofort ins Bewusstsein zurückgeholt, um dort weiterzumachen, wo er soeben aufhören musste. Dieses unglaubliche Machtgefühl, das er verspürt hatte, während er sein wehrloses Opfer mit Tritten und Schlägen malträtiert hatte, war einfach unbeschreiblich gewesen und stellte alle seine bisherigen Empfindungen in den Schatten. Das Leben dieses Menschen – genauer gesagt, der Zeitpunkt seines Todes, lag einzig und allein in seinen Händen. Bei diesem Gedanken bekam er eine Gänsehaut und verspürte gleichzeitig, wie seine sexuelle Erregung noch weiter anstieg.
Doch die Ohnmacht seines Opfers war ein sicheres Anzeichen dafür, dass er unbedingt eine
Pause einlegen musste. Er durfte ihn nicht töten – noch nicht. Wenn sein Plan aufgehen sollte, würde er noch ein wenig Geduld haben müssen. Unruhig blickte er auf seine Armbanduhr. Sein zweites
Opfer würde erst in circa dreißig Minuten eintreffen. So lange musste er ihn unbedingt noch am Leben halten. Er schloss die Augen und stellte sich vor, was er mit seinem zweiten Opfer alles
anstellen würde. Sofort schoss ihm das Blut zwischen die Beine und verstärkte seine ohnehin schon vorhandene Erektion. Der Druck lastete mittlerweile so stark auf ihm, dass er kurzzeitig sogar
mit dem Gedanken spielte, sich an Ort und Stelle zu erleichtern. Aber er entschied sich doch dagegen, da er sich seinen Höhepunkt unbedingt für sein zweites Opfer aufsparen wollte. Schließlich
sollte dieses Ereignis etwas ganz Besonderes werden und durfte keinesfalls aufgrund einer menschlichen Schwäche getrübt werden. Immerhin ging er immer noch davon aus, dass dieses Erlebnis
einmalig bleiben würde, auch wenn er mit jeder weiteren Minute zu der Überzeugung kam, dass er so etwas unbedingt wiederholen musste.
Ungeduldig ging er im Zimmer auf und ab. Die große Plastikfolie, mit der er den kompletten Fußboden abgedeckt hatte, knisterte unter seinen Füßen. Er konnte es kaum noch erwarten, sein Opfer zu töten. Um sich abzulenken, spielte er noch einmal den geplanten Ablauf durch. Er durfte keinen Fehler machen und keine Spuren hinterlassen. Er hatte alles so sorgfältig geplant, aber trotzdem wurde er die Angst nicht los, irgendetwas übersehen zu haben. Diese Sache hier war viel größer als alles, was er bisher gemacht hatte. Noch nie zuvor hatte er einen Menschen getötet. Niemals zuvor hatte er ein Opfer zurückgelassen, das ihn hätte belasten können. Doch dieses Mal würde es gleich zwei Leichen geben. Nachdenklich hielt er einen kleinen Becher gegen das Licht der Wohnzimmerlampe und schwenkte vorsichtig das dickflüssige Sekret, das sich darin befand.
Aber wenn ich alles richtig mache, hinterlasse ich nur ein totes Opfer
und einen Mörder, der sich selbst gerichtet hat!, dachte er und lachte dabei diabolisch auf.
Um sich ein wenig abzulenken, warf er wieder einen Blick auf sein Opfer, das unverändert regungslos auf seinem Stuhl saß. Er musste auf jeden Fall dafür sorgen, dass seine Leiche hinterher keine Spuren von körperlicher Gewalt mehr aufweisen würde. Alles musste wie ein Selbstmord aussehen. Nur so würde seine Inszenierung perfekt werden. Er nahm den Abschiedsbrief vom Tisch, den er erst vor wenigen Minuten auf dem Computer seines Opfers geschrieben und anschließend ausgedruckt hatte. Ein zufriedenes Grinsen huschte über sein Gesicht, als er erneut die wenigen Zeilen durchlas.
Es kann nichts schief gehen! Ich habe an alles gedacht!
Hendrik Jürgens wurde von diversen Geräuschen geweckt, die für das alte Bauernhaus, das seine Frau Wiebke und er vor einigen Jahren erworben hatten, zwar nicht ungewöhnlich, in der Häufigkeit aber doch irgendwie eigenartig waren. Müde richtete er sich in seinem Bett auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Die ungewohnte Nachtarbeit hinterließ noch immer seine Spuren bei ihm. Erst vor einigen Wochen hatte er seinen neuen Job als nächtlicher Objektschützer bei “Reichelt-Elektronik“ in Sande angetreten. Zuvor war er einige Monate lang arbeitslos gewesen, nachdem sein vorheriger Arbeitgeber, ein Wilhelmshavener Bauunternehmen, unerwartet Insolvenz anmelden musste. Trotz intensiver Bemühungen fand er aber keinen neuen Job in seinem erlernten Beruf, so dass er sich schließlich gezwungen sah, das nächstbeste Angebot des Jobcenters anzunehmen, um auch weiterhin die hohen Kreditraten für das gemeinsame Traumhaus bezahlen zu können.
Seine Frau Wiebke und er hatten sich einen langersehnten Wunsch erfüllt und sich ein altes Bauernhaus mit großzügigem Grundstück gekauft. Sie hatten lange nach einem Objekt gesucht, das ihren Vorstellungen entsprach und gleichzeitig bezahlbar war. Schließlich war der Wilhelmshavener Immobilienmarkt nicht gerade überschwemmt von derartigen Spezialimmobilien.
Umso spontaner handelten sie, als sie eines Tages per Zufall von dem zum Verkauf stehenden Hof erfuhren. Das Ehepaar, das den Hof bis zu seinem Tode bewirtschaftet hatte, war durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen. Die Tochter des Ehepaares, eine Frührentnerin aus Bochum, hatte damals ein Grabgesteck in dem Blumenladen gekauft, in dem Wiebke zwischenzeitlich gearbeitet hatte. Sie erzählte ihr, dass ihr Vater, der unter einer Form der Demenz litt, die offensichtlich alle unterschätzt hatten, einfach eine Kerze in die Scheune gestellt und sich anschließend zum Schlafen ins Heu gelegt hatte. Als die Scheune schon in Flammen stand, musste seine Frau wohl noch versucht haben, ihm zu Hilfe zu kommen, denn die Feuerwehr fand in der völlig abgebrannten Scheune schließlich nur noch die bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Leichen der beiden.
Ganz vorsichtig hatte Wiebke sich bei der Frau erkundigt, welche Pläne sie mit der Immobilie der Eltern hatte. Sie wollte nicht pietätlos sein, aber diese Gelegenheit durfte sie sich auf keinen Fall entgehen lassen. Und tatsächlich einigte man sich nach einem kurzen Gespräch und einer harmonischen Preisverhandlung auf die Eckpunkte eines Kaufvertrages, der nur zwei Monate nach der Beerdigung bereits beurkundet wurde.
Wiebkes Traum war es, auf dem abseits gelegenen Hof einmal Hühner, Schweine und Schafe zu halten. Auch ein eigenes Pferd stand auf ihrer Wunschliste, war aber bei der angespannten Finanzlage ein eher langfristiges Ziel. Dass die Bank dem Finanzierungswunsch der beiden zugestimmt hatte, konnten sie bis heute nicht glauben. Aber die Zinsen waren niedrig und der Bankberater bezeichnete das Objekt als Schnäppchen. Also unterschrieben die beiden den Kreditvertrag, auch wenn die monatlichen Raten an der Grenze ihrer finanziellen Möglichkeiten lagen.
Das wenige Geld, das sie sich mühsam angespart hatten, war bereits nach kurzer Zeit aufgezehrt. Das alte Gemäuer verschlang doch deutlich mehr Kapital für Sanierungen, als die beiden erwartet hatten. Und dabei hatten sie bisher wirklich nur das Notwendigste gemacht. Zum Glück war Hendrik als gelernter Maurer handwerklich sehr geschickt und kannte auch den ein oder anderen Kumpel, der bei den anstehenden Arbeiten kostengünstig einspringen konnte. Ansonsten wären sie wahrscheinlich bereits heute vollkommen pleite.
Aber trotz aller Anfangsschwierigkeiten waren sie sich einig, dass sie es genauso wieder machen würden, denn sie liebten dieses Haus über alles und waren sich sicher, gemeinsam darin alt werden zu wollen.
Ein Blick auf den kleinen Radiowecker, der neben Hendriks Bett auf der Nachttischkommode stand, verriet ihm, dass es bereits 15 Uhr war. Hatte er wirklich so lange geschlafen? Ansonsten war er doch immer bereits nach höchstens fünf oder sechs Stunden schon wieder aufgestanden, weil sein Körper einfach nicht mehr einsehen wollte, mitten am Tag zu schlafen. Müde schwang er die Beine aus dem Bett, stand auf und schleppte sich zur Schlafzimmertür. Nachdem er sie geöffnet hatte, um in das gegenüberliegende Badezimmer zu gehen, hörte er von unten leise Stimmen.
Sie wird doch nicht etwa?, überlegte er, nachdem ihm wieder eingefallen war, dass er ja heute Geburtstag hatte.
Mit dem unguten Gefühl, dass seine Geburtstagsgäste bereits seit Längerem auf ihn warteten, vollzog er nur eine spärliche Katzenwäsche, schlüpfte anschließend in Hemd und Jeans und kämmte sich schnell die kurzen dunkelblonden Haare. Dann warf er einen letzten Kontrollblick in den Spiegel. Er sah einen Mann, der heute zwar erst seinen 32. Geburtstag feierte, aber optisch locker auch für Anfang 40 durchging. Um seine müden, blauen Augen und auf der hohen Stirn hatten sich bereits mehrere Fältchen gebildet. Er wirkte blass und energielos. Sein schmaler Mund, der unter der eher überdurchschnittlich großen Nase noch kleiner wirkte, war von einem ungepflegten Dreitagebart umgeben. Sein Bauchansatz war das Ergebnis einer ungünstigen Mischung, die aus zu wenig Sport und zu viel ungesundem Essen bestand.
Als es an der Badezimmertür klopfte, zuckte er erschrocken zusammen.
»Hendrik, bist du gleich fertig?«, fragte ihn seine Frau. Ihre Stimme klang matt und niedergeschlagen.
Ob es ihr nicht gut geht?
»Komme gleich runter!«, antwortete er und wartete noch einen kurzen Moment ab, um seiner Frau die Chance zu geben, die Gäste vorzuwarnen. Dann ging auch er die steile Holztreppe hinunter. Das alte Holz ächzte unter jedem seiner Schritte.
Jetzt wissen wirklich alle, dass ich komme, dachte er.
Bei dem Gedanken an die angespannt wartenden Geburtstagsgäste, stahl sich ein freches Grinsen in sein Gesicht. Ob ich noch einmal umkehren sollte?
Im Erdgeschoss war es plötzlich ungewohnt still.
Wahrscheinlich verstecken sich alle im Wohnzimmer und warten nur darauf, mich lautstark überraschen zu können, interpretierte er die Situation und übte schon mal einen überraschten Gesichtsausdruck.
»Wiebke, wo bist du denn?«, rief er laut durch den Flur.
»Ich bin im Wohnzimmer!«
Hendrik legte seine Hand auf die Türklinke, atmete noch einmal tief durch und öffnete dann die Tür.
»ÜBERRASCHUNG!«, schrien plötzlich alle im Chor und schleuderten ihm einen Mix aus Luftschlangen und Konfetti entgegen.
Seine Frau war die Erste, die ihm gratulierte. Sie umarmte ihn, gab ihm einen flüchtigen Kuss und schmiegte sich anschließend ganz fest an ihn. Hendrik schlang seine Arme um ihren zierlichen Körper und sog ihre Wärme in sich auf. Er hatte sich schon oft gefragt, warum sie sich gerade für ihn entschieden hatte. Sie war nicht nur die herzlichste und liebste, sondern gleichzeitig auch noch die wunderschönste Frau, die er jemals gesehen hatte. Ihre mandelbraunen Augen, das pechschwarze Haar und ihre niedliche Stupsnase hatten ihn schon bei der allerersten Begegnung verzaubert. Er war damals in den Blumenladen gekommen, um ein Mitbringsel für die Internetbekanntschaft zu kaufen, mit der er sich am Abend eigentlich zum ersten Mal hatte treffen wollen. Als Wiebke dann aber auf ihn zugekommen war und ihn dabei angelächelt hatte, war es sofort um ihn geschehen gewesen. Sofort hatte er gewusst, dass nur sie “die Eine“ sein konnte. Er hatte zwar, wie geplant, den Blumenstrauß gekauft, ihn aber anschließend sofort an Wiebke zurückgereicht, um sie gleichzeitig mit einer Einladung zum Abendessen zu überraschen. Sie war rot geworden, hatte kurz gezögert, nahm seine Einladung aber dennoch an. Bei ihrem ersten Date hatten sich die beiden dann so gut verstanden, dass sie gleich für den nächsten Tag ein weiteres Treffen vereinbart hatten, dem wiederum noch viele weitere Verabredungen folgten.
Und jetzt stehen wir hier in unserem gemeinsamen Traumhaus, dachte Hendrik. Wieder einmal realisierte er, wie glücklich er war.
Wiebke löste sich aus der Umarmung, lächelte ihren Mann an und reichte ihm ein großes, liebevoll verpacktes Geschenk, das sie zuvor neben sich auf dem Fußboden abgestellt hatte. Hendrik stutzte für einen Moment. Eigentlich hatten sie vereinbart, sich aufgrund der angespannten finanziellen Situation in diesem Jahr nichts zu schenken. Aber das war gar nicht der Hauptgrund für seine Irritation. Vielmehr war es ihr Lächeln, das zwar wie immer wunderschön, aber irgendwie auch traurig wirkte.
Ob mit ihr alles in Ordnung ist? Sorgenvoll schaute er ihr in die Augen.
»Nun mach schon auf!«, riss ihn eine tiefe, männliche Stimme aus seinen Gedanken. Es war Oliver, sein bester Freund.
Hendrik nickte seinem Kumpel lachend zu, nahm seiner Frau das Geschenk aus den Händen, kniete sich damit auf den Boden und öffnete die große, rote Schleife.
»Das solltest du doch nicht«, sagte er zu Wiebke, während er ganz vorsichtig das bunte Geschenkpapier entfernte.
»Das ist doch nicht etwa?« Seine Stimme überschlug sich fast vor Begeisterung.
»Sie ist leider nur gebraucht«, warf Wiebke ein.
»Aber das macht doch nichts. Das ist eine “Phantom 3“«, versuchte er ihre Verunsicherung im Keim zu ersticken. Nie im Leben hatte er mit einem solchen Geschenk gerechnet, zumal der Neupreis im Internet bei über 500 Euro lag.
»Was ist das für ein Ding?«, fragte seine Mutter, die jetzt aus der Traube der Gäste heraustrat, um ihrem Sohn ebenfalls zu gratulieren.
»Das ist eine Drohne, Mama! Ein Spielzeug für erwachsene Männer!«, lachte er und drückte seine Mutter an seine Brust.
Er war ihr einziger Sohn, seinen Vater hatte er nie kennengelernt. Natürlich hatte er oft nach ihm gefragt, aber seine Mutter war stets bei ihrer Version von dem attraktiven Unbekannten geblieben, von dem sie sich hatte verführen lassen. Sie war damals schon 40 Jahre alt gewesen und ihr erster Mann war erst wenige Monate zuvor verstorben. Er hatte sie nie gut behandelt, sie häufig belogen und betrogen. Da ihre Ehe aber kinderlos blieb, war sie immer davon ausgegangen, dass sie unfruchtbar war. Als sie dann eines Tages den gutaussehenden Fremden traf, hatte sie sich ohne Befürchtungen auf eine leidenschaftliche Nacht mit ihm eingelassen. Sie wollte zu diesem Zeitpunkt keinen neuen Mann, sie wollte niemanden, der ihr die Welt zu Füßen legte, nur um sie dann nach der Eheschließung wie ein Dienstmädchen zu behandeln. In dieser Nacht wollte sie nur ein wenig Leidenschaft und hielt es daher für besser, den Unbekannten nicht nach seinem Namen oder seiner Herkunft zu fragen. Selbstverständlich hatte sie versucht ihn ausfindig zu machen, als sie bemerkt hatte, was aus ihrer Leidenschaft heraus entstanden war. Aber trotz intensiver Bemühungen hatte sie ihn niemals wiedergesehen.
Wenn Hendrik heute an diese Geschichte dachte, konnte er es sich kaum noch vorstellen. Seine Mutter war zwar erst 72 Jahre alt, aber gerade in den letzten Jahren war sie sehr stark gealtert. Bei einem Sturz vor drei Jahren hatte sie sich die Hüfte gebrochen und bewegte sich seither nur noch mit einem Rollator durch die Gegend. Zudem wurde sie immer vergesslicher und er hoffte inständig, dass dies nicht die Vorboten einer beginnenden Demenz waren.
Nach und nach gratulierten ihm jetzt auch die übrigen Gäste und überreichten ihm die mitgebrachten Geschenke. Während er sich mit ihnen unterhielt, kümmerte sich Wiebke im Hintergrund um die Versorgung mit Getränken und Knabbereien. Erst eine halbe Stunde später schaffte er es, sich aus der Menge zu lösen und seiner Frau unbemerkt in die Küche zu folgen. Wiebke stand gerade an der Spülmaschine und räumte einige Teller und Kuchengabeln ein. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, als Hendrik sich von hinten an sie heranschlich, seine Arme um sie schlang und sie ruckartig an sich heranzog.
Erschrocken wirbelte sie herum und stieß ihren Mann mit beiden Händen von sich. »Spinnst du, mich so zu erschrecken?« Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen, ängstlichen Augen an.
»Entschuldige, ich wollte mich doch nur bei dir für alles bedanken«, sagte er kleinlaut. Derart schreckhaft kannte er seine Frau überhaupt nicht.
Wiebke schloss für einen Moment die Augen und schaute ihn dann wieder direkt an. »Es tut mir leid!«, entschuldigte sie sich für ihr Verhalten, trat einen Schritt auf ihn zu und nahm ihn bei den Händen. »Es ist wahrscheinlich der ganze Stress mit der Überraschungsparty. Ich weiß doch auch nicht.« Sie senkte ihren Blick und schaute betroffen zu Boden.
»Dir muss überhaupt nichts leid tun!«, sagte er, legte seinen Zeigefinger unter ihr Kinn und richtete ihren Kopf auf, um ihr wieder tief in die Augen schauen zu können. »Das war eine tolle Überraschung und ich habe mich sehr darüber gefreut. Mir tut es nur leid, dass dir die ganze Sache so viel Stress gemacht hat!«
Wiebke zwang sich zu einem erschöpften Lächeln. »Morgen geht es mir bestimmt schon wieder besser.«
»Bestimmt!«, sagte er und drückte dabei sanft ihre Hände.
»Und das Geschenk?«, fragte sie zögerlich. »Freust du dich wirklich darüber?«
Hendrik atmete tief durch. Er war sich selbst noch nicht im Klaren darüber, ob er sich über das teure Präsent wirklich freuen konnte. »Du weißt, dass ich mir schon lange so eine Drohne gewünscht habe.« Er machte eine gedankenschwere Pause. »Aber wir können uns das doch eigentlich überhaupt nicht leisten.« Seine Stimme hatte dabei einen vorwurfsvollen Tonfall angenommen, den er überhaupt nicht beabsichtigt hatte.
Wiebkes Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. »Ich habe doch gesagt, dass ich sie gebraucht gekauft habe!«, fuhr sie ihn wütend an. »Außerdem habe ich eine Ewigkeit dafür gespart, nur um dir eine Freude zu machen. Aber wenn du meinst, dass wir die nächsten Jahre auf alles verzichten müssen, nur um diese alte Ruine abzubezahlen, können wir das Scheißding ja auch gerne wieder verkaufen.« Sie drehte sich weg und stützte sich auf der Küchenablage ab. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie bemühte sich, sie wegzuwischen, ohne dass ihr Mann etwas davon mitbekam.
Vollkommen verunsichert legte Hendrik ihr seine Hand auf den Rücken. »So war das doch nicht gemeint«, begann er zu erklären, als plötzlich Oliver in die Küche gestürmt kam.
»Hier steckst du also!«, sagte er. »Komm mit, die Leute wollen jetzt unbedingt dein neues Spielzeug in Aktion bewundern!« Er packte seinen Freund am Arm und schleifte ihn mit sich nach draußen.
*
Drei Stunden später waren endlich alle Gäste verschwunden, aber Hendrik wusste noch immer nicht, wie er auf seine Frau zugehen sollte. Sie war ihm den ganzen Nachmittag aus dem Weg gegangen und hatte jeglichen Augenkontakt seinerseits strikt ignoriert. Sie schien immer noch mächtig sauer auf ihn zu sein. Bereits in einer Stunde würde er wieder zur Arbeit fahren müssen. Vorher wollte er aber unbedingt noch diesen Streit aus der Welt schaffen. Seine Frau hatte sich so viel Mühe mit der Überraschung gegeben, und er hatte mal wieder nur ans Geld gedacht.
Wenn sie das Geld wirklich nebenbei angespart hat, fehlt es uns ja auch wirklich nicht in der Haushaltskasse, versuchte er sich einzureden, wobei er genau wusste, dass ein kleines Notfallpolster ihrem Konto auch sehr gut getan hätte.
Während er die schmutzigen Teller und das benutzte Besteck auf ein Tablett stapelte, war Wiebke noch mit der Spurenbeseitigung in der Küche beschäftigt. Er nahm das vollgepackte Tablett und trug es vom Wohnzimmer in die Küche. Seine Frau, die mit dem Rücken zur Tür stand, drehte sich nicht einmal zu ihm um, als er in die Küche kam und das Tablett auf dem Esstisch abstellte.
»Wollen wir unseren Streit nicht einfach begraben? Es ist doch mein Geburtstag!«
Wiebke erstarrte in ihrer Bewegung, drehte sich aber dennoch nicht zu ihm um.
Hendrik machte einen weiteren Schritt auf seine Frau zu. Er stand jetzt direkt hinter ihr, wollte ihr am liebsten die Hände um die Hüften legen, seine Nase in ihren wundervoll duftenden Haaren vergraben und ihr einfach nur ganz nahe sein. Doch er traute sich nicht und hielt daher mitten in der Bewegung inne. »Ich liebe dich doch«, flüsterte er stattdessen kaum hörbar.
Schwungvoll drehte seine Frau sich zu ihm um, packte ihn mit der Hand am Hinterkopf und presste ihre Lippen auf seinen Mund. Hendrik wurde von dieser unerwarteten Reaktion vollkommen überrumpelt. Während ihre Zunge ungewohnt forsch auf Entdeckungstour ging, schob Wiebke ihn einfach vor sich her. Als beide wieder im Wohnzimmer angekommen waren, stieß sie ihn mit beiden Händen vor die Brust, so dass er rücklings auf dem Polstersessel landete. Überrascht schaute Hendrik seine Frau an. Am liebsten hätte er sie gefragt, was genau für ihren plötzlichen Sinneswandel verantwortlich war, aber er hatte Angst, erneut die falschen Worte zu wählen.
Ohnehin ließ Wiebke ihm keine Zeit darüber nachzudenken. Sie kniete sich zwischen seine Beine, öffnete die Schnalle seines Gürtels, den Knopf seiner Hose und zog ihm anschließend die Jeans samt Boxershorts mit einem Ruck von den Beinen. Dann stellte sie sich wieder hin, entledigte sich im Rekordtempo ihrer eigenen Kleidung und setzte sich splitternackt auf seinen Schoß.
»Happy Birthday!«, hauchte sie ihm ins Ohr, ehe sie ihn endgültig in sich aufnahm.
*
Auf seinem ersten nächtlichen Rundgang durch die riesigen Lagerhallen des Elektronikversandhändlers ließ Hendrik die Geschehnisse seines Geburtstages noch einmal Revue passieren.
Was genau ist da eigentlich gerade geschehen?
Seine Frau hatte ihn derart wild und leidenschaftlich geliebt, wie er es allenfalls noch aus den Anfängen ihrer Beziehung kannte. Außerdem war da ja auch noch ihr merkwürdiges Verhalten vom Nachmittag. So stur und streitsüchtig kannte er sie überhaupt nicht.
Ob es wirklich nur die Anspannung wegen der Überraschungsparty war? Oder ob ihr unsere finanzielle Situation vielleicht doch mehr zu schaffen macht, als sie es zugeben mag?
Wiebke hatte bereits vor einigen Jahren ihre letzte Anstellung als Verkäuferin in einem Kiosk verloren und seither keinen neuen Job gefunden. Die fehlende Berufsausbildung und ihr relativ schlechter Hauptschulabschluss schränkten ihre Chancen auf eine neue Beschäftigung zudem enorm ein. Hendrik kannte keine Details aus ihrer komplizierten Vergangenheit. Als er Wiebke kennengelernt hatte, hatte sie ihm lediglich erzählt, dass in ihrem bisherigen Leben so einiges schief gelaufen war. Sie wollte damals einen kompletten Neuanfang starten und ihre Vergangenheit weit hinter sich lassen. Hendrik respektierte ihren Wunsch und verschonte sie daher mit allzu neugierigen Fragen. Er wusste nur, dass seine Frau gerade einmal 16 Jahre alt gewesen war, als ihre Eltern bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren.
Danach hatte es eine ganze Zeit lang gedauert, bis sie ihr Leben wieder auf die Reihe gekriegt hatte. Schon in der Pubertät war sie, nach eigenen Angaben, nicht einfach gewesen, hatte getrunken, gestohlen und mit Drogen herumexperimentiert. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sich die Lage noch weiter zugespitzt, auch wenn Sandra, ihre zwei Jahre ältere Schwester, alles versucht hatte, um sie wieder auf den richtigen Weg zu bringen.
Das Piepen seines Walkie-Talkies riss ihn aus seinen Gedanken.
»Alles okay bei dir?«, quäkte es aus dem kleinen Lautsprecher des Gerätes. Es war die Stimme von Georg, einem der älteren Mitarbeiter aus der Zentrale.
»Hier ist alles ruhig«, bestätigte Hendrik und setzte anschließend seinen Rundgang fort.