1. Kapitel

 

***Die Nacht von Samstag auf Sonntag***

 

Mit ihren Kräften vollkommen am Ende kauerte Nicole auf dem hölzernen Boden der Sauna. Ihre Schultern und ihr rechter Fuß schmerzten. Ihre verzweifelten Versuche, die verschlossene Tür gewaltsam zu öffnen, waren allesamt fehlgeschlagen. Auch das kleine Sichtfenster, das sich im oberen Bereich der stabilen Holztür befand, hatte ihren Ellenbogen- und Faustschlägen standgehalten. Ihre Lunge brannte von den unzähligen Schreien, vor und nach denen sie diese mit der heißen Raumluft hatte vollpumpen müssen. Aber als sie irgendwann eingesehen hatte, dass sie sich weder aus eigener Kraft noch mit externer Hilfe zeitnah aus ihrem Gefängnis befreien können würde, war ihr Körper einfach vor lauter Verzweif lung in sich zusammengesunken. Ihre körperlichen und geistigen Anstrengungen einzustellen, hatte sie im ersten Moment als eine große Erleichterung empfunden. Zu dem musste sie überrascht feststellen, dass ihr die hohen Temperatu ren in Bodennähe deutlich erträglicher erschienen als im Bereich der höher gelegenen Holzbänke. Hier unten kann ich es vielleicht bis zum nächsten Morgen aushalten, flammte etwas Hoffnung in ihr auf. Doch nur wenige Minuten später kam es ihr auch hier unerträglich heiß vor. Sie wusste nicht, wie lange sie bereits eingeschlossen war. Die körperlichen Anstrengungen sowie die immer stärker zunehmende Panik hatten ihr Zeitgefühl vollständig lahmgelegt. Die einzige Gegebenheit, die sie mit absoluter Gewissheit kannte, war die Raum temperatur. Einhundertzwanzig Grad! Allein diese Zahl auf dem Thermometer zu lesen, trieb die unerfahrene Saunagängerin an den Rand der Verzweiflung. Wie konnte ein Mensch überhaupt solch hohe Temperaturen aushalten? Und noch viel wichtiger: Wie lange? Jeder Quadratzentimeter ihrer Haut war mit Schweiß bedeckt, der in dicken Tropfen, der Schwerkraft folgend, ihren Körper hinab strömte. Ihr Herz schlug so heftig, als wäre sie gerade von ihrem wöchentlichen Zehnkilometer-Lauf zurückgekehrt. Wie konnte das sein, wo sie doch eigentlich nur noch regungslos dalag? 

Sie erinnerte sich an einen Artikel, den sie irgendwann einmal über die Saunagewohnheiten der Finnen gelesen hatte. Einer der hierzu befragten Skandinavier hatte darin die körperlichen Reaktionen beim Saunagang mit der Begegnung mit einem gefährlichen Raubtier gleichgesetzt. Steigender Puls, Schweißausbruch. Der Körper inter pretiert die hohen Temperaturen als Gefahr und bereitet sich auf die Flucht vor, rief sie sich die Zeilen des Interviews ins Gedächtnis. Doch sosehr sie es auch wollte, sie konnte nicht fliehen. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, dass irgendwer sie aus ihrem von außen ver riegelten Gefängnis befreien würde. Doch wer würde schon mitten in der Nacht in die Sauna gehen? Sie selbst würde es jedenfalls nicht machen. Sie war schließlich nur hier, weil … Schmerzhaft wurde ihr bewusst, warum sie sich in dieser miss lichen Lage befand. Heiße Tränen liefen ihr über die Wangen. Hätte sie doch nur niemals diesen Weg eingeschlagen. Tief im Inneren hatte sie doch gewusst, dass falsch war, was sie tat. Rache war noch nie eine gute Lösung gewesen. Krampfhaft versuchte sie darüber nachzudenken, was sie jetzt noch tun könnte. Sie konnte doch nicht einfach nur daliegen und darauf hoffen, dass sie die nächsten Stunden überleben würde. Aber sie war einfach zu erschöpft, um einen klaren Gedanken zu fassen. Ich muss möglichst wenig Energie verbrauchen, überlegte sie und spielte mit dem Gedanken, der bleiernen Müdigkeit einfach nachzugeben und einzuschlafen. Doch was ist, wenn ich nicht mehr aufwache? Bei diesem Gedan ken durchzuckte sie ein kurzer Energiestoß. Wenn sie hier drinnen tatsächlich sterben sollte, wollte sie zumindest einen Hinweis auf die Person hinterlassen, die ihr das angetan hatte. Suchend blickte sie sich um, fand jedoch nichts, was sich dazu eignete, eine verständliche Botschaft zu hinterlassen. Dann fiel ihr Blick auf ihre künstlichen Fingernägel, die erst letzte Woche von ihrer Nageldesignerin kunstvoll verziert worden waren. Vorsichtig begann sie damit, mit den harten aus Acrylmaterial bestehenden Nagelverzierungen den hölzernen Boden zu bearbeiten. Das könnte klappen, schöpfte sie erneut Hoffnung, als sie auf die leichte Einkerbung blickte, die sie in das Holz geritzt hatte.