1. Kapitel

 

*** Die Nacht von Freitag auf Samstag ***

 

Obwohl sie schon seit über einem Jahr auf Wangerooge lebte und arbeitete, war Lisa noch nie so spät allein auf der Insel unterwegs gewesen. Nachdem sie den Flugplatz, das Fußballfeld und den Golfclub passiert hatte, folgte sie der langgezogenen Straße Zum Osten. Je weiter sie sich vom Inseldorf entfernte, umso mehr spürte sie das mulmige Gefühl, das die immer schwärzer werdende Dunkel­heit in ihr auslöste. »Was mache ich hier nur?«, begann sie ein leises Selbstgespräch, während ihre Beine Schritt für Schritt dem Licht­kegel folgten, mit dem ihr Handylicht den Boden erleuchtete.

Nach etwa sechzehn Minuten erreichte sie das Café Neudeich, das zu dieser nächtlichen Stunde schon lange geschlossen hatte. Tags­über konnten hier die Touristen auf der Terrasse sitzen, die Sonne genießen, ein Kännchen Ostfriesentee bestellen und dazu ein hausge­machtes Stück Torte verzehren. Doch nach Mitternacht sorgten lediglich ein paar Solarleuchten dafür, dass man das urige Gebäude in der Dunkelheit nicht übersah.

Bis zur Jever-Plattform waren es weitere dreizehn Gehminuten. In den Morgenstunden kamen viele Urlauber mit dem Fahrrad hierher, um sich den Sonnenaufgang anzusehen. Lisa ärgerte sich, dass sie nicht ebenfalls ihren Drahtesel genommen hatte, um zumindest den ersten Teil ihres Weges nicht zu Fuß bewältigen zu müssen. Doch da ihr Licht schon lange kaputt war und das Schutzblech furchtbar laut klapperte, hatte sie letztendlich darauf verzichtet. Da Wangerooge auch als die Insel der kurzen Wege bekannt war, stand ihr Rad eigentlich die meiste Zeit vollkommen ungenutzt herum, sodass sie bisher keine Notwendigkeit gesehen hatte, die kleinen Mängel beseitigen zu lassen. »Nächste Woche bringe ich es zur Reparatur«, nahm sie sich dennoch fest vor.

Direkt hinter der Jever-Plattform begann der Oststrand von Wangerooge. Wer von hier aus eine Wanderung um die Ostspitze der Insel unternehmen wollte, konnte sich auf etwa zwei Stunden voller Sinneseindrücke freuen. Meeresrauschen im Ohr, salzige Nordsee­luft in der Nase sowie feiner Sand unter den Füßen waren dabei garantiert, und mit etwas Glück bekam man tagsüber Seehunde und Kegelrobben zu sehen, die sich am Strand ausruhten. Da die Schiff­fahrtsrouten von Jade, Weser und Elbe direkt an der östlichsten Ostfriesischen Insel vorbeiführten, konnte man bei seinem Spazier­gang auch das ein oder andere Containerschiff bestaunen.

Doch auf die Sinneseindrücke ihrer Augen musste Lisa weitest­gehend verzichten, wenn man von dem beeindruckenden Schauspiel des nächtlichen Sternenhimmels absah, der hier draußen um ein Vielfaches imposanter wirkte als in ihrer alten Heimatstadt Leer oder der Großstadt Essen, in der sie zuletzt mit ihrem Exmann und den Kindern gelebt hatte. Dort – wie fast überall sonst in dicht besiedel­ten Gebieten – raubte nämlich die von Menschen verursachte Licht­verschmutzung den Bewohnern des Planeten Erde den atemberau­benden Blick auf die Milchstraße, die viele Kinder in Deutschland daher nicht als unsere Galaxie, sondern nur als Schokoriegel kannten. Sie war daher sehr froh, dass sie nun wieder im ländlichen Friesland leben durfte und ihre in Nordrhein-Westfalen geborenen Sprösslinge nicht nur den echten Milky Way kannten, sondern auch wussten, dass Kühe im realen Leben nicht lila waren.    

Der Inhalt ihres Rucksacks drückte sich immer wieder gegen ihre Wirbelsäule, sodass sie ihn ständig neu schulterte, um die Position der darin befindlichen Gegenstände zu verändern. Den Picknickkorb übergab sie in regelmäßigen Abständen von der einen in die andere Hand, da er mit zunehmender Wegstrecke immer schwerer zu wer­den schien. Glücklicherweise sorgten die angenehmen nächtlichen Temperaturen sowie der kühlende Nordseewind dafür, dass sie trotz der Strapazen nicht ins Schwitzen geriet. Sie hatte eine ganze Stunde im Bad verbracht, um für ihr Blind Date möglichst gut auszusehen. Keinesfalls durfte das Endergebnis darunter leiden, nur weil sie zudem noch für eine möglichst romantische Stimmung sorgen wollte. An und für sich war sie mit ihrem Äußeren zufrieden, wenn man von den kleinen Wölbungen an ihrem Bauch absah, die nach der Geburt ihrer Kinder nie wieder ganz verschwinden wollten. Auch reichten ihre 1,67 Meter Körpergröße nicht, um Model werden zu können. Doch mit den richtigen Schuhen, sexy Unterwäsche sowie einem gekonnten Make-up betrachtete sie sich nicht ohne einen gewissen Stolz im Spiegel.   

Nach weiteren dreißig Minuten Fußmarsch erreichte Lisa endlich ihr Ziel – den östlichen Anleger von Wangerooge. Bis zum Ende der 1950er Jahre hatten hier noch die Schiffe angelegt, ehe man den Hafen aufgrund zunehmender Versandung aufgegeben und im Wes­ten der Insel neu errichtet hatte. Heute erinnerten nur noch ein paar aus dem Sand ragende Holzpfähle daran, was hier einst einmal gewesen war.

Ihr mulmiges Bauchgefühl war längst einem heftigen Herzklopfen gewichen. Die anfängliche Angst vor der Dunkelheit hatte sie längst abgelegt. Was sollte ihr auch schon passieren? Sie lebte schließlich auf einer Insel, auf der gerade einmal 1.300 Menschen wohnten. Hier kannte wirklich jeder jeden, auch wenn sie nach ihrem ersten Jahr noch immer nicht das Gefühl hatte, wirklich dazuzugehören. Und die über 700.000 Touristen, die jedes Jahr nach Wangerooge kamen, wollten sich mit Sicherheit erholen und nicht in der Nacht allein herumstreunenden Frauen auflauern.

Während sie den tragbaren Ethanol-Kamin aus dem Rucksack holte, ihn mit der brennbaren Flüssigkeit befüllte und diese schließ­lich entzündete, dachte sie zum abertausendsten Mal an die zurück­liegenden Wochen und Monate. Mit der allerersten Botschaft, die in ihrem Briefkasten gelandet war, hatte sie zunächst so überhaupt nichts anfangen können. Dafür war ihr Inhalt viel zu vage formuliert und die Trennung von ihrem Mann noch viel zu frisch gewesen. Doch mit jeder neuen Postkarte steigerten sich in ihr Neugierde und Verlangen. Und jetzt, da sie nur noch wenige Minuten davon trennten, ihn endlich zu sehen, war das Kribbeln, das ihren ganzen Körper durchströmte, kaum noch auszuhalten.

Sie breitete die Picknickdecke aus, holte die Sektflasche und zwei Gläser aus dem Korb und legte diese neben die Obstschale, die mit Erdbeeren und Weintrauben gefüllt war. Nachdem sie sich gesetzt hatte, zupfte sie ihre Unterwäsche zurecht. Sexy, aber unbequem, dachte sie und hoffte, dass der ganze Aufwand nicht umsonst gewesen war. Würde er im flackernden Licht des Kamins überhaupt erkennen können, wie hübsch sie sich für ihn gemacht hatte? Würde er sie tatsächlich küssen und sich anschließend mit ihr am Strand lieben, so wie sie es sich bereits seit Wochen in ihrer Fantasie aus­malte?

Lisa richtete ihren Blick in die Richtung, aus der sie ihren unbe­kannten Verehrer erwartete. Dabei glaubte sie längst eine Ahnung zu haben, um wen es sich dabei handeln musste. Zu viele Anzeichen sprachen einfach dafür, dass ER es sein musste. 

Als aus der Dunkelheit plötzlich der Song Happy Birthday von Stevie Wonder an ihr Ohr drang, war sie sich plötzlich absolut sicher. ER musste es sein. Vor Aufregung sprang sie auf, umarmte sich selbst, indem sie ihre Hände auf die jeweils gegenüberliegende Schulter legte, und rief ihm voller Euphorie entgegen: »Ich wusste die ganze Zeit, dass du es bist!«

Die Musik verstummte und Lisa wartete gebannt darauf, dass ihr Traummann endlich ins Licht des Kaminfeuers treten würde. So deutlich, wie sie das Lied trotz des Windes hören konnte, musste er ihr bereits ganz nahe sein. Doch statt des erhofften Anblicks durchbrach plötzlich ein anderer Song die monotone Stille der Nacht.

Lisa erstarrte, als sie Lied und Interpret erkannte. Wie in Zeitlupe rutschten ihre Hände von den Schultern ihren Oberkörper hinab, bis ihre Arme schließlich vollkommen kraftlos zu Boden hingen.

 

Sie wusste nicht, wie oft sie den Song Always von Bon-Jovi schon gehört hatte. Schließlich war es die Lieblingsband ihres Vaters gewesen und damit auch ein omnipräsenter Teil ihrer Kindheit. Sie liebte ihren Dad und hatte immer viel Zeit mit ihm verbracht. Ob sie nur deshalb auch zu einem Fan der Rockband aus New Jersey geworden war, wusste sie nicht genau, ging aber irgendwie immer davon aus. Es ist wohl wie bei der Kirche und bei Fußball, hatte sie oft gedacht. In manche Sachen wird man einfach hineingeboren. 

Wenige Meter von ihr entfernt stand ein Schatten. Nah genug, dass ihn die Lichtstrahlen des Feuers erreichten, aber immer noch zu weit entfernt, um mit Sicherheit zu erkennen, wer ihr nächtlicher Besu­cher war. War es der Mann, auf den sie wartete? Hatte sie sich doch getäuscht und ein anderer hatte ihr die liebevollen Botschaften geschrieben? Oder war sie rein zufällig auf einen Verrückten gesto­ßen, der in völliger Dunkelheit am Strand spazieren ging und dabei laute Musik auf seinem Handy hörte?

 

Im Refrain des Songs versprach die markante Stimme von Jon Bon Jovi jetzt, sie immer zu lieben und immer für sie da zu sein.

 

Aber warum gerade dieses Lied?, fragte sie sich, während eine Erinnerung, die fest mit diesem Song verbunden war, aus ihrem Gedächtnis aufstieg und ihr zeitgleich eine unangenehme Gänsehaut bescherte. Es war eine böse Vorahnung, ein Verdacht, der eigentlich nicht wahr sein konnte, aber genau in dem Moment Realität wurde, als der Schatten einen weiteren Schritt auf sie zumachte.

Sie erkannte sein Gesicht. Hatte er die Karten geschrieben? War er der heimliche Verehrer, der ihr seit Monaten diese wunderschönen Nachrichten schickte? Neben ihrem Favoriten hatte sie zuletzt noch vage ein oder zwei andere Männer als mögliche Absender der Postkarten in Erwägung gezogen, aber ihn hatte sie zuletzt ganz und gar nicht mehr auf dem Zettel gehabt.

»Mit dir …« Sie stoppte mitten im Satz, als ihr etwas auffiel, was sie verdutzt innehalten ließ.

»… hast du nicht gerechnet«, vervollständigte er ihren Satz. Ein diabolisches Grinsen huschte über sein Gesicht. »Und das war auch genauso geplant.«

                                                                         

 Er reckte er ihr die rechte Hand, die er bisher hinter seinem Rücken verborgen gehalten hatte, entgegen. Darin befand sich ein Messer mit einer etwa zehn Zenti­meter langen Klinge. »Time to say goodbye«, sang er einen kurzen Ausschnitt aus dem Song von Sarah Brightman und Andrea Bocelli, dann machte er einen energischen Schritt auf sie zu.

Panisch rannte Lisa in die entgegengesetzte Richtung. In der nächt­lichen Dunkelheit war das Rauschen der Nordsee, die immer wieder an den Strand schwappte, nahezu ihre einzige Orientierungsmöglich­keit.

»Mach es uns beiden doch nicht so schwer!«, rief er ihr hinterher.

Er klang sehr nah und nicht wirklich außer Atem. Lisa fragte sich, ob er das Licht seiner Handykamera eingeschaltet hatte oder ob sie ihm vielleicht in der Schwärze der Nacht entkommen konnte, wenn sie wie ein Hase Haken schlug. Waren ihre Chancen größer, wenn sie in die Nordsee sprang und in die Dunkelheit hinausschwamm?

Einige Sekunden lang widerstand sie dem Drang, sich nach ihm umzudrehen. Aber als sie dann doch einen Blick über die Schulter riskierte, stieß sie im selben Augenblick mit ihrem Fuß gegen einen großen, stabilen Gegenstand, der im Sand lag. Schreiend fiel sie hin und umklammerte reflexartig mit beiden Händen den schmerzenden großen Zeh. Doch als sie direkt danach in das grelle Licht einer Taschenlampe blickte, wusste sie, dass sie sofort weiter fliehen musste.

Sie biss auf die Zähne, rappelte sich auf und rannte davon. Immer wieder wechselte sie schlagartig die Richtung, hoffte, dass er sie so eventuell aus den Augen verlieren würde. Als sie einen kräftigen Stoß in ihrem Rücken spürte, der zeitgleich mit einem unerträglichen Schmerz verbunden war, versagten ihr die Beine sofort den Dienst. Sie hatte das Gefühl, die Besinnung zu verlieren und bäuchlings in den Sand zu fallen. Doch noch ehe sie nach vorne kippte, packte er sie an den Haaren und riss sie mit solch einer Wucht zurück, dass sie stattdessen auf dem Rücken zu liegen kam.

Er setzte sich auf ihren Bauch, legte seine Hände um ihren Hals und presste zu.

Lisa spürte eine lähmende Gleichgültigkeit in ihr aufsteigen. Sie wollte nur noch, dass es endlich vorbei war. Doch der Gedanke an ihre Kinder mobilisierte schlagartig ungeahnte Kräfte in ihr. Sie krallte ihre Hände in den Sand und schleuderte ihn ihrem Peiniger direkt ins Gesicht, woraufhin dieser seinen Griff lösen musste, um sich die Augen reiben zu können. Sie musste diesen Moment der Überraschung nutzen. Wie ein Aal begann sie sich hin und her zu winden und versuchte gleichzeitig, ihn von sich hinunterzustoßen. Doch ihre verzweifelten Bemühungen erzielten nicht den notwendi­gen Erfolg. Sie schaffte es lediglich, seine Hände abzuwehren, die schon wieder nach ihrem Hals tasteten.

»Dann machen wir es eben anders!«, schrie er sie mit hasserfüllter Stimme an und tastete nach dem Messer, das er neben ihr im Sand abgelegt hatte, als er sie auf den Rücken geworfen und zu würgen begonnen hatte.

»Nein, bitte nicht!«, flehte Lisa ihn an, als sie realisierte, was er vorhatte. Gleichzeitig versuchte sie, die Waffe vor ihm in die Finger zu bekommen. »Denk an …«

Mitten im Satz spürte sie die Klinge, die direkt in ihren Brustkorb eindrang. Alles passierte so schnell und heftig, dass der Schmerz erst kurz darauf einzusetzen schien. Sie hatte das Gefühl zu fallen, obwohl sie doch schon längst auf dem Boden lag. Die weiteren Stiche, die wie bei einem Hagelsturm auf sie einprasselten, spürte sie kaum noch. Dann umgab sie eine Dunkelheit, gegen die die nächtliche Schwärze des Strandes wie ein Sonnenuntergang wirkte.