1. Kapitel
Suizid?
Es war wirklich großes Glück, dass Hedda und Enno zu dieser
Jahreszeit noch eine freie Ferienwohnung in Greetsiel gefunden
hatten. Der Sielort, der zur Gemeinde Krummhörn gehörte, war
nämlich ein äußerst beliebtes Reiseziel bei Touristen aus dem
ganzen Bundesgebiet. Zwar würden sie die Unterkunft bereits in
einer Woche wieder räumen müssen, aber mehr Zeit hatte ihnen
Jörg, der Leiter ihrer Geheimeinheit, für die Ermittlungen ohnehin
nicht zugestanden.
»Glaubst du, es war Mord oder Selbstmord?«, fragte Hedda ihren
Verlobten. Seit Ennos Heiratsantrag in Leer waren schon einige
Wochen vergangen, dennoch schwebte sie noch immer auf Wolke
sieben.
»Selbstmord war es auf keinen Fall«, antwortete der ehemalige
Polizist, ohne dabei seinen Blick von der vor ihm liegenden Straße
abzuwenden. Er setzte den Blinker und bog rechts ab.
Verwundert über die bestimmte Antwort, die keinen Zweifel
erkennen ließ, schaute Hedda ihren Freund nachdenklich an.
»Wieso bist du dir da so sicher?«
»Nun ja.« Ennos Mundwinkel zuckten verräterisch nach oben.
»Einen Mord begeht man entweder aus Mordlust, Habgier, zur
Befriedigung des Geschlechtstriebs oder aus sonstigen niedrigen
Beweggründen. Ich glaube nicht, dass Eddy Heinrich sich aus
einem dieser Motive selbst getötet hat. Und gegenüber sich selbst
heimtückisch zu sein, halte ich auch für äußerst schwierig.«
»Ich finde, ein Föhn in der Badewanne ist aber durchaus als
gemeingefährliches Mittel einzustufen«, grinste jetzt auch Hedda.
Sie wusste genau, worauf ihr Freund hinauswollte. Er hatte ihr erst
letztens von einem Podcast erzählt, den er gehört hatte und bei dem
es unter anderem darum ging, dass man statt dem Begriff
›Selbstmord‹ doch besser das Wort ›Suizid‹ verwenden sollte. Denn
ein Mord war es juristisch genommen nur dann, wenn eines der
Mordmerkmale gemäß Paragraph 211 Strafgesetzbuch vorlag.
»Du hast mir ja mal richtig zugehört.« Enno neigte den Kopf zur
Seite und zwinkerte seiner Beifahrerin frech zu. Er spielte damit auf
die häufige Kritik seiner Freundin an, er wäre nicht immer ganz bei
der Sache, wenn sie ihm etwas erzählte. Dabei war es seiner
Meinung nach genauso oft auch umgekehrt.
»Ich höre dir immer zu.« Die junge Ermittlerin lächelte ihren
Freund an. Dann ergänzte sie: »Fast immer.« Sie machte eine kurze
Pause, in der sich jetzt auch auf ihrem Gesicht ein feistes Grinsen
breitmachte. »Auf jeden Fall öfter als du mir.«
»Ach ja? Dann kannst du mir doch mit Sicherheit auch noch die
übrigen Merkmale nennen, die einen Mord kennzeichnen können?«
Triumphierend hob Hedda die Augenbrauen an. »Du meinst, die
Grausamkeit der Tat sowie die Ermöglichungsabsicht oder auch die
Absicht, eine andere Tat durch den Mord zu verdecken?«, fragte
sie, obwohl sie genau wusste, dass sie die richtige Antwort gegeben
hatte.
»Der Punkt geht an dich.« Anerkennend nickte Enno ihr zu.
»Schau mal, unser altes Hotel!« Er wies plötzlich auf das große
Gebäude am Straßenrand, in dem die beiden untergekommen
waren, als sie in einem Mordfall in Emden ermittelt hatten. Das
Viersternehotel ›Novum‹ lag in Hinte, direkt an der Stadtgrenze der
Seehafenstadt. Da Hedda und er vorher noch kurz ihre Familien in
Neermoor besucht hatten, waren sie auf ihrer Fahrt zum Zielort
erneut hier vorbeigekommen. Beim Gedanken an die damalige
Ermittlungsarbeit plagte den Streetworker wieder einmal das
schlechte Gewissen. Wie so oft hatte er nur wenige Wochen gehabt,
um mit seinen Jugendlichen zu arbeiten, ehe er abermals unter
einem Vorwand Wilhelmshaven verlassen musste, um seiner
Tätigkeit als Mordermittler einer Geheimeinheit nachzugehen, die
im ländlichen Ostfriesland erprobt wurde.
Hedda ahnte sofort, was ihn bedrückte. »Es ist doch maximal eine
Woche«, versuchte sie ihn zu trösten. »Wenn wir bis dahin nichts
herausgefunden haben, sollen wir die Ermittlungen ohnehin
abbrechen. Dann kannst du doch schon wieder zurück zu deinen
Jungs.« Behutsam legte sie ihre linke Hand auf seinen
Oberschenkel. Sie liebte seine fürsorgliche Art, die sich eben nicht
nur auf sie bezog, sondern auf alle, für die er sich verantwortlich
fühlte. Aber da ihm dieser Wesenszug immer wieder ein schlechtes
Gewissen bescherte, wünschte sie manchmal auch, er wäre ein
kleines bisschen egoistischer.
»Du hast ja recht«, seufzte Enno. »Ich werde mich ab sofort voll
auf unseren Fall konzentrieren.«
Eddy Heinrich war vor einiger Zeit tot in seiner Badewanne
aufgefunden worden. Kurz vor seinem Ableben hatte der
lebenslange Junggeselle eine Krebsdiagnose bekommen,
Heilungschance gleich null. Dass er einen Föhn ins Wasser fallen
ließ, um so sein unausweichliches Schicksal vorzuziehen, klang
daher durchaus nicht unglaubwürdig. Zumal er aus seiner
Erkrankung kein Geheimnis gemacht und immer wieder die Option
des Suizides lautstark gegenüber Freunden und Bekannten ins Spiel
gebracht hatte. In Greetsiel gingen daher fast alle davon aus, dass er
aus freien Stücken aus dem Leben geschieden war.
Doch irgendwer zweifelte dann doch an seinem Freitod. Die
regionale Presse erhielt einen anonymen Brief, in dem stattdessen
der Verdacht des Mordes in den Raum geworfen wurde. Der
Verfasser bat um die Mithilfe der Medien, da die örtliche Polizei
keine Anstalten machte, um in dieser Sache überhaupt tätig zu
werden. Für die Ermittlungsbehörden war der Fall eindeutig und
damit nur noch eine unbedeutende Nummer im Rahmen der
Sterbefallstatistik.
Aber auch die Presse witterte keine lohnenswerte Story und leitete
den anonymen Brief lediglich an die Polizei weiter. Diese nahm das
Schriftstück zwar zu den Akten, klappte den schmalen Ordner aber
auch gleich danach wieder zu und sortierte ihn zurück in die
Ablage. Trotzdem wurde Jörg, in seiner Funktion als Leiter der
Geheimeinheit, eine Kopie des anonymen Briefes zugespielt.
Nachdem er sich daraufhin auch noch eine Ablichtung der Akte
hatte schicken lassen, entschied er, dass sich seine beiden jüngsten
Ermittler die Sache zumindest einmal ansehen sollten. Denn eines
wusste er ganz genau: Die Zukunft seiner Einheit hing wesentlich
von den Erfolgen in der Testregion Ostfriesland ab. Und je mehr
Mordfälle sein Team aufklären würde, umso besser standen die
Chancen, dass neue Teams auch in anderen Regionen Deutschlands
ermitteln durften.
Vom Hotel ›Novum‹ in Hinte waren es noch etwa vierzehn
Kilometer Fahrtstrecke nach Greetsiel. Als die beiden Ermittler mit
Ennos Polo auf den Ortseingang zufuhren, erkannten sie sofort die
wohl berühmtesten Mühlen Ostfrieslands – die Zwillingsmühlen
von Greetsiel. Direkt am Kanal und in unmittelbarer Nachbarschaft
gelegen, konnte man die beiden Galerieholländer auf den ersten
Blick nur an ihren verschiedenen Außenanstrichen unterscheiden.
Auch waren die beiden Bauwerke keinesfalls Zwillinge, wie es der
Name vermuten lassen könnte. Die rote Mühle wurde 1921, die
grüne bereits 1856 erbaut. Die Vorgänger beider Mühlen waren
zuvor entweder durch Stürme oder Brände zerstört worden.
Bei diesem malerischen Anblick erinnerte sich Hedda an ihren
ersten und bisher einzigen Urlaub, den sie mit Enno in Norddeich
gemacht hatte. Dabei waren die Tage dort alles andere als erholsam
gewesen. Zuerst hatten sie privat in einem Mordfall ermittelt, über
den sie zufällig gestolpert waren, und am Ende des Urlaubs sahen
sie sich plötzlich mit der Frage konfrontiert, ob sie zukünftig für
eine Geheimeinheit tätig sein wollten. »Wir müssen endlich mal
wieder Urlaub machen!«, sagte sie daher entschlossen.
»Urlaub? Du meinst, so ganz ohne Leichen?« Die Vorstellung
gefiel Enno wirklich sehr.
»Ganz genau, nur wir zwei, sonst niemand. Egal ob tot oder
lebendig.«
»Das sollten wir unbedingt machen!« Enno parkte seinen Wagen
auf der Stellfläche, die direkt vor ihrer Ferienwohnung lag, stellte
den Motor ab, beugte sich zu seiner Verlobten hinüber und küsste
sie. »Wenn wir unsere Arbeit hier abgeschlossen haben, buchen wir
uns ein paar schöne Tage auf einer einsamen Insel.«
2. Kapitel
Ortsbegehung
Nach einer romantischen Nacht in ihrer Ferienwohnung saßen
Hedda und Enno beim gemeinsamen Frühstück und planten den
Tag.
»Wollen wir heute Vormittag einen kleinen Bummel durch den
Ort machen?«, schlug die junge Ermittlerin vor.
»Du meinst, damit wir die örtlichen Gegebenheiten besser
kennenlernen, bevor wir in die Ermittlungen einsteigen?«,
schmatzte der ehemalige Polizist mit vollem Mund. Das
Schokocroissant war so lecker, dass er einen viel zu großen Bissen
davon genommen hatte.
»Das auch.« Hedda grinste verlegen. »Und gleichzeitig könnte ich
noch ein paar Eindrücke für meinen neuen Roman sammeln«, gab
sie kleinlaut zu. Ihr zweites Buch spielte unter anderem auch in
Greetsiel. Der Krimi war quasi fertig, aber Hedda wollte unbedingt
vorher sicherstellen, dass die Orte in der Realität genauso aussahen,
wie sie diese in der Geschichte beschrieben hatte.
»Das nenne ich mal ›Zwei Fliegen mit einer Klappe‹ schlagen«,
lachte Enno. Dann trübte sich seine Stimmung schlagartig ein. »Du
bekommst deine beiden Jobs viel besser unter einen Hut als ich«,
seufzte er bei dem Gedanken an seine Tarntätigkeit als
Streetworker.
Mitfühlend legte Hedda ihm die Hand auf den Unterarm. »Du
fehlst deinen Streetworker-Kollegen vielleicht vier bis sechs
Wochen pro Jahr, um deiner geheimen Ermittlungstätigkeit
nachgehen zu können«, sagte sie verständnisvoll. »Aber du darfst
nicht vergessen, dass es deine Stelle gar nicht geben würde, wenn
du nicht Teil der Geheimeinheit wärst. Das bedeutet, jeden Tag, an
dem du für deine Jungs da bist, ist ein zusätzlicher Tag.«
»Du hast ja recht.« Wieder entfuhr Enno ein tiefer Seufzer. Er
ärgerte sich, dass er dieses Thema erneut zur Sprache gebracht
hatte. Schließlich hatte er Hedda doch bereits auf der Hinfahrt
versprochen, sich ab sofort voll auf den Fall zu konzentrieren. Es
fiel ihm aber nicht immer leicht, nüchterne Gedanken mit seinen
Gefühlen gleichzuschalten. »Die Ermittlungen sind ja auch nicht
weniger wichtig«, sprach er weiter. »Ganz im Gegenteil sogar.
Aber ich bin halt ein Perfektionist und sehe immer nur das, was ich
als Streetworker in meiner Fehlzeit noch alles hätte bewirken
können.«
»Und dafür liebe ich dich!« Hedda erhob sich von ihrem Stuhl,
beugte sich über den Tisch und gab ihm einen Kuss.
***
Bereits eine halbe Stunde später erkundeten die beiden den
ostfriesischen Touristenort, der bereits als Kulisse für viele
berühmte Filmproduktionen gedient hatte. Eigentlich hatte
Greetsiel gerade einmal 1500 Einwohner, aber die Straßen rund um
den Hafen waren in diesem Augenblick so überfüllt, dass man
glauben konnte, man wäre in der Innenstadt einer
Millionenmetropole und nicht in einem beschaulichen Sielort an
der Nordseeküste.
Sie setzten sich auf eine Steinmauer, die entlang des
Hafenbeckens verlief. Von hier aus hatte man einerseits einen
tollen Blick auf die größte Krabbenkutterflotte Ostfrieslands,
andererseits aber auch auf die malerischen kleinen Häuser mit den
glockenähnlichen Giebeln, die nach niederländischem Vorbild
bereits im achtzehnten Jahrhundert erbaut worden waren.
»Man kommt sich vor wie in einer anderen Zeit«, schwärmte
Hedda, während sie ihren Blick zwischen den alten Häusern und
den traditionellen Kuttern umherschweifen ließ.
»Ja«, lachte Enno zustimmend. »Wenn da nur die ganzen
Touristen mit ihren Smartphones nicht wären.«
Wenig später standen die beiden vor dem unter Denkmalschutz
stehenden Schöpfwerk, welches das überschüssige Wasser aus dem
tiefliegenden Binnenland in die Nordsee abpumpte. Das
Backsteingebäude sowie die umliegenden Wasserflächen schaute
sich Hedda besonders gut an. Immerhin wurde in ihrem neuen
Roman genau hier eine Leiche gefunden.
Auf dem Rückweg zu ihrer Ferienwohnung machten sie noch
einen kurzen Zwischenstopp bei der Marienkirche, die zwischen
1380 und 1410 im gotischen Stil erbaut worden war. Wie bei vielen
ostfriesischen Kirchen befand sich auch hier der Glockenturm
neben dem eigentlichen Gotteshaus. Beim Anblick des
Kirchgebäudes mussten beide an ihre bevorstehende Hochzeit
denken. Auch wenn sie erst seit kurzem verlobt waren, wollten sie
auf keinen Fall eines dieser Pärchen sein, die sich bereits vor Jahren
die Ehe versprochen hatten, aber den endgültigen Schritt vor den
Traualtar dann doch erst – wenn überhaupt – nach etlichen weiteren
Sonnenumrundungen wagten. Für beide war daher klar, dass ihr
›Ja-Wort‹ irgendwann in den nächsten zwölf bis achtzehn Monaten
stattfinden sollte.
»Wollen wir noch ein wenig Verpflegung einkaufen?«, fragte
Hedda, als sie gerade am Schwimmbad und dem direkt
danebenliegenden Nationalpark-Haus vorbeischlenderten.
Enno antwortete ihr nicht. Denn er hatte gerade etwas ganz
anderes entdeckt, was seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch
nahm. »Schau mal!«, rief er beinahe euphorisch. »Da steht eine
Miniatur vom Pilsumer Leuchtturm.« Das elf Meter hohe Original,
in seinem unverkennbaren gelb-roten Ringelsockenanstrich, war
durch den Film ›Otto – Der Außerfriesische‹ im Jahr 1989
deutschlandweit berühmt geworden. Mit großen Schritten ging der
ehemalige Polizist auf die Nachbildung zu, winkelte die Hände wie
ein Erdmännchen vor seinem Oberkörper an und umkreiste die
Nachbildung mit hopsenden Schritten.
»Imitierst du gerade Otto Waalkes?«, fragte Hedda schmunzelnd,
auch wenn ihr die Darbietung ihres Freundes gleichzeitig ein wenig
peinlich war.
Der ehemalige Polizist antwortete mit einem übermütigen,
langgezogenen „Jaaaahaa“ auf die Frage, so wie es der bekannte
Komiker, der gleichzeitig auch einer der berühmtesten Ostfriesen
war, in seinen Filmen und Shows regelmäßig tat. Auch wenn der
Film bereits vor seiner eigenen Geburt erschienen war, liebte er den
Blödelstreifen, den er sich als Kind unzählige Male mit seinem
Vater Bento und seiner viel zu früh verstorbenen Mutter angesehen
hatte.
»Wenn dich die kleine Nachbildung schon so begeistert, dann
sollten wir uns das Original unbedingt auch noch ansehen. Pilsum
ist ja nicht weit von hier.«
»Das müssen wir unbedingt«, stimmte Enno ihr begeistert zu.
»Trotzdem gehen wir jetzt aber erst einmal einkaufen.« Hedda
hakte sich bei ihrem Freund unter und stellte so gleichzeitig sicher,
dass er nicht noch weiter in peinlichen Posen durch die Gegend
hüpfen konnte.
»Was ist das?« Ennos Stimme klang auf einmal deutlich ernster.
»Was meinst du?«, fragte Hedda und versuchte, seinem Blick zu
folgen.
»Na, das Schild da im Schaufenster!«