Prolog
Ein perfekter Mord
07. Juni
Ein letztes Mal schaute er auf das Handydisplay. Beim Anblick des Hintergrundbildes, das direkt unter der digitalen Uhrzeit zu sehen war, huschte ihm ein siegesgewisses Lächeln über das Gesicht. Die zierliche junge Frau, die auf dem Foto zu sehen war, schien mit der am Himmel stehenden Sonne um die Wette zu strahlen. Sie stand an einem wunderschönen Strand und hielt ihre Hand so in die Höhe, dass es aussah, als würde sie den gigantischen Stern zwischen ihren zarten Fingern gefangen halten. Wahrscheinlich ein Urlaubsschnappschuss, dachte der ganz in Schwarz gekleidete Schatten, deaktivierte den Bildschirm und verstaute das Smartphone in der Hosentasche. Dann streifte er sich das Trikot eines beliebten Fußballvereins aus dem Ruhrgebiet über das langärmlige Shirt und setzte ein dazu passendes Cappy auf. Beides hatte er vor langer Zeit auf einem Flohmarkt erworben, als er zu Besuch bei einem weit entfernt wohnenden Familienmitglied gewesen war. Er mochte weder den Club noch die Sportart, aber gerade deshalb schien ihm die auffällige Verkleidung unscheinbarer zu sein als sein eigentliches, perfekt an die Dunkelheit angepasstes Outfit, das er darunter trug. Da es sich um eine durchaus warme Sommernacht handelte, stopfte er die schwarzen Lederhandschuhe und die Skimaske – die er nach einem Kartbahn-Besuch mit den Arbeitskollegen in dem Bewusstsein zur Seite gelegt hatte, sie eines Tages zweckentfremden zu wollen – zunächst zu dem dicken Kissen, welches er direkt vor dem Bauch trug, um sich selbst deutlich dicker aussehen zu lassen. Als er den Karton öffnete, in dem er seit wenigen Stunden die Axt aufbewahrte, begannen seine Hände vor Aufregung zu zittern. Er umfasste den hölzernen Griff, den er zur Sicherheit mit Frischhaltefolie umwickelt und mit Gummibändern fixiert hatte, und schwang das Spaltwerkzeug einige Male hin und her, sodass ein schneidendes Geräusch zu hören war. Er hatte so lange auf diesen Tag hingefiebert, alles geplant und immer wieder in Gedanken durchgespielt. Doch jetzt, da seine Vision endlich Realität werden sollte, war er doch nervös. Er setzte sich und starrte gedankenverloren auf die Axt in seinen Händen. Was ist, wenn ich doch etwas nicht beachtet habe? Was ist, wenn mich jemand erkennt? War es die Sache wirklich wert? Er schloss die Augen und versuchte, mit gleichmäßigen, tiefen Atemzügen gegen seine aufsteigende Übelkeit anzukämpfen. »Es ist es wert!«, beschwor er sich schließlich selbst. Entschlossen stand er auf, richtete seine Verkleidung und den aus der Form geratenen falschen Bauch und ließ die Axt in einem selbstangefertigten Holster verschwinden, das er unter der linken Armbeuge trug. Dann öffnete er die Tür und verschwand in der nächtlichen Dunkelheit. Nachdem er bereits ein ganzes Stück gegangen war und dabei nicht ein einziges bekanntes Gesicht seinen Weg gekreuzt hatte, entspannte sich sein Nervenkostüm ein wenig. Er ging an der Harle entlang. Der kleine Fluss mündete in einigen Hundert Metern in die Nordsee, doch er folgte seinem Lauf nur, bis er die ›Historische Rettungsstation‹ erreicht hatte, die kurz hinter der ›Friedrichsschleuse‹ lag. Tagsüber konnte man sich in dem kleinen roten Backsteingebäude mit dem großen grünen Tor, über dem das Logo der ›Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger‹ prangte, eine Ausstellung zum historischen Rettungswesen an der ostfriesischen Küste anschauen. Doch jetzt, um etwa halb drei in der Nacht, war es der perfekte Platz, um auf sein Opfer zu warten. Er versteckte sich hinter dem Gebäude und stopfte das Kissen, das Trikot sowie das Cappy in einen Stoffbeutel. Dann streifte er sich die Skimaske und die Handschuhe über, zog die Axt aus dem Holster und machte damit erneut ein paar Schwungübungen. Mittlerweile hatte die Vorfreude sein Unwohlsein vollkommen verdrängt. Er musste nicht lange warten, bis er endlich ein schwankendes Handylicht auf sich zukommen sah. Aufgrund der Dunkelheit konnte er nicht genau erkennen, wer dort in offensichtlich betrunkenem Zustand auf ihn zugesteuert kam. Er war sich aber dennoch sicher, dass es sich um genau die Person handelte, auf die er schon die ganze Zeit gewartet hatte. Als der torkelnde Mann die ›Historische Rettungsstation‹ passierte, war dann auch der letzte kleine Restzweifel verflogen. Denn sein Opfer führte mal wieder ein Selbstgespräch, so wie er es von ihm schon oft gehört hatte, wenn er ihm genau an dieser Stelle aufgelauert hatte, um seine Gewohnheiten zu studieren. Leise schlich er sich aus seinem Versteck und folgte ihm. Mit jedem Schritt umklammerten seine Finger den umwickelten Griff der Axt fester. Vor Aufregung schlug sein Herz bis zum Hals. Am liebsten wäre er sofort nach vorne geprescht und hätte zugeschlagen, doch er musste noch ein wenig Geduld haben. Nur ein kleiner Fehler, ein unachtsamer Moment, und alles wäre umsonst. Als sein Opfer das Gebäude der Küsten-Räucherei Albrecht erreicht hatte, war es dann endlich so weit. Der maskierte Schatten beschleunigte seinen Gang, um den Abstand zu verkürzen. Durch seine schneller werdenden Schritte wurde der Betrunkene zwar auf ihn aufmerksam, doch er hatte gerade einmal genug Zeit, sich erschrocken umzudrehen und ihn mit dem Handylicht anzuleuchten, als ihn die Schneide der Axt auch schon mit voller Wucht direkt im Gesicht traf. Einem schauerlichen Knacken folgte ein gurgelnder Laut. Dann fiel der Körper des Mannes wie ein nasser Sack in sich zusammen und lag schließlich direkt vor seinen Füßen. Ein Glücksgefühl breitete sich in ihm aus. Er hatte es geschafft und es fühlte sich viel besser an, als er es sich in seinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Ob er mich erkannt hat?, fragte er sich und spürte, wie diese Annahme seinen Rausch noch weiter verstärkte. Dann besann er sich wieder auf seinen Plan, mit dessen Umsetzung er gerade erst begonnen hatte. Da das Handy seines Opfers beim Aufprall anscheinend zerstört worden war, zog er erneut das Smartphone aus seiner Hosentasche und schaltete es ein. Wieder sah er das glückliche Gesicht der jungen Frau auf dem Display. Er richtete den Bildschirm auf das zertrümmerte Gesicht des Toten. »Das dürfte dir gefallen, oder?« Dann holte er aus seiner anderen Hosentasche einen kleinen Schlitzschraubenzieher heraus und ritzte mit der scharfkantigen Spitze etwas auf die Stirn seines Opfers. Mit dem schwachen Licht, das der Handybildschirm im Sperrmodus lediglich ausstrahlte, erleuchtete der Schatten sein Werk. Zum Glück habe ich mit der Axt nicht die komplette Stirn zertrümmert, dachte er, steckte das Smartphone ein und entfernte sich eiligen Schrittes vom Tatort.
1. Kapitel
›M‹ wie Mieses Timing
07. Juni
Seit ihrem letzten Mordfall waren ungefähr neun Monate vergangen. Hedda und Enno konnten sich nicht erinnern, jemals über einen so langen Zeitraum nicht ermittelt zu haben. Anscheinend hatte es in der ostfriesischen Testregion, in der ihre Geheimeinheit eingesetzt wurde, zuletzt einfach keine Morde gegeben, bei denen die Polizei ihre Unterstützung benötigt hätte. Hedda hatte die ermittlungsfreie Zeit genutzt, um ihren vierten Kriminalroman zu vollenden. Das Buch war vor einem Monat, ebenso wie die vorherigen Bände, vom Krimens-Verlag veröffentlicht worden. Aktuell war sie damit beschäftigt, das Exposé ihres nächsten Krimis für ihren Lektor vorzubereiten. Auch Enno konnte der längeren Pause durchaus etwas abgewinnen. Wenn die aufzuklärenden Morde zu dicht aufeinanderfolgten, musste er seiner Tarntätigkeit als Streetworker in Wilhelmshaven oft wegen einer erfundenen Erkrankung fernbleiben oder aber den Abbau fiktiver Überstunden vortäuschen. Dabei hatte er oft das Gefühl gehabt, seine Kolleginnen und Kollegen im Stich zu lassen. Sie über einen so langen Zeitraum uneingeschränkt unterstützen zu können, hatte ihm deshalb wirklich gutgetan. Gemeinsam gingen sie zu ihrem neuen VW Passat, der auf einem Parkplatz vor ihrer Wilhelmshavener Wohnung stand. Enno öffnete die Heckklappe des Kombis, damit Rocky in den Kofferraum hüpfen konnte. Der ehemalige Polizeispürhund, der nach dem Tod seines Herrchens bei Hedda und Enno ein neues Zuhause gefunden hatte, lebte jetzt fast schon ein ganzes Jahr bei den beiden und hatte sie in dieser Zeit auch schon bei der Aufklärung von zwei Mordfällen unterstützt. Verliebt schaute Hedda zunächst den Schäferhund und dann ihren Mann an. Sie konnte sich ein Leben ohne die beiden einfach nicht mehr vorstellen. »Was ist?«, fragte Enno, als er den verträumten Blick seiner Frau bemerkte. Er stand neben der geöffneten Fahrertür und war mitten in der Einsteigbewegung erstarrt. Heddas Lächeln wurde noch breiter. »Ich musste nur mal wieder daran denken, wie glücklich ich bin«, offenbarte sie ehrlich ihre Gefühle, öffnete die Beifahrertür und setzte sich. »Das bin ich auch«, sagte Enno, während er sich auf den Fahrersitz fallen ließ. Er zog die Autotür hinter sich zu, beugte sich über die Mittelkonsole und gab seiner Frau einen Kuss. Über die Schulter warf Hedda einen Blick zu Rocky. »Seit wir den neuen Wagen haben, fährt er ganz gerne Auto.« Enno lachte. »Ich glaube, er liebt es, die hinter uns fahrenden Leute zu beobachten.« »Das war ein ganz tolles Weihnachtsgeschenk.« Hedda wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. »Dass du deinen geliebten Polo aufgegeben hast, um für uns …« Sie holte tief Luft, während sie sich gleichzeitig die Hand auf die Brust presste. »Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet.« »Doch, das weiß ich«, grinste Enno, griff nach ihrer Hand und zwinkerte ihr zu. »Du sagst es mir ja immer wieder.« Er freute sich, dass sein Geschenk auch nach so vielen Monaten noch immer diese Wirkung bei seiner Frau hinterließ. Er hatte ihr zum Weihnachtsfest den Schlüssel für ein Familienauto überreicht, da sie zuvor bereits mehrfach angedeutet hatte, dass sein alter Polo einfach zu klein wäre, um Rocky zu transportieren. Da er nach dem Auspacken aber auch noch die Perspektive eines weiteren Familienzuwachses angesprochen hatte, war das Fahrzeug für Hedda viel mehr als ein optimierter Verbrauchsgegenstand. Für sie war es der Beweis dafür, dass Enno und sie irgendwann einmal ein Baby haben würden. Hedda war vierundzwanzig und Enno siebenundzwanzig Jahre alt. Sie hatten zwar noch nicht genau geplant, wann sie ihre Liebe mit eigenem Nachwuchs krönen wollten, aber die Gewissheit, dass es für beide nur einer Frage des ›Wann?‹ und nicht des ›Ob überhaupt?‹ war, bedeutete ihr wahnsinnig viel. Gleichzeitig fragte sie sich aber natürlich auch, ob es verantwortbar war, ihre Tätigkeiten bei der Geheimeinheit ab dem Moment der Schwangerschaft einfach fortzusetzen. So verrückt es auch für Außenstehende klingen mochte, aber sie liebte ihren Job, auch wenn er alles andere als ungefährlich war. Ihre Tätigkeit als Ermittlerin aufzugeben und stattdessen nur noch Mutter und Autorin zu sein, konnte sie sich daher aktuell noch nicht vorstellen. »Bist du bereit?«, fragte Enno und holte damit seine Frau in die Realität zurück. Sie wollten nach Harlesiel fahren, um von dort aus mit der Fähre nach Wangerooge überzusetzen. Jörg, der Leiter ihrer Geheimeinheit, hatte den beiden zu Weihnachten die Überfahrten sowie einen dreitägigen Aufenthalt auf der zweitkleinsten Ostfriesischen Insel geschenkt. Hedda schaute ihn an, als wäre sie gerade erst aus einem Traum erwacht. »Ich freue mich total auf die Tage mit dir«, sagte sie. Ein lautes Bellen aus dem Kofferraum ließ die beiden zusammenzucken. »Ich freue mich auf die Tage mit EUCH«, korrigierte Hedda sich schmunzelnd und schaute dabei in die vor Aufregung leuchtenden Augen von Rocky. Nach einer vierzigminütigen Autofahrt hatten sie Carolinensiel erreicht. Von dem Wittmunder Stadtteil aus war es nur noch ein Katzensprung bis zum Fähranleger in Harlesiel. Enno las die Uhrzeit von dem Radiodisplay des Passats ab. »Wir sind früh dran«, sagte er zufrieden. Aufgrund der Abhängigkeit von Ebbe und Flut fuhr ihre Fähre bereits um 07:30 Uhr ab. Er mochte es gar nicht, irgendwo auf den letzten Drücker aufzutauchen. Vor allem dann nicht, wenn einem die Fähre buchstäblich vor der Nase wegfahren konnte. Denn allein schon wegen der Tide konnte es unter Umständen sehr lange dauern, bis man wieder das nächste Schiff besteigen konnte. »Jetzt kann eigentlich nichts mehr schiefgehen«, stellte er daher zufrieden fest. Im selben Moment klingelte sein Handy. »Kannst du mal nachsehen, wer das ist?«, bat er seine Frau und nickte mit dem Kopf Richtung Mittelkonsole, wo er das Gerät abgelegt hatte. Hedda nahm das Smartphone zur Hand und betrachtete das Display. »Es ist Jörg«, sagte sie. »Soll ich rangehen? Er will uns bestimmt nur einen tollen Aufenthalt auf Wangerooge wünschen.« Enno nickte zustimmend und Hedda nahm das Gespräch entgegen. »Moin Jörg. Enno braucht gerade beide Hände am Steuer, darum musst du leider mit mir vorliebnehmen«, begrüßte sie ihren Vorgesetzten gut gelaunt. »Wir sind gerade auf dem Weg nach Harlesiel, um dein Weihnachtsgeschenk in Anspruch zu nehmen. Lieb von dir, dass du extra nochmal anrufst, um uns eine gute Zeit zu wünschen.« Am anderen Ende der Leitung herrschte plötzlich eine ungewöhnliche Stille. 11 »Jörg?«, fragte Hedda. »Ist alles okay?« »Entschuldige bitte. Ich hatte gar nicht daran gedacht, dass ihr ausgerechnet heute nach Wangerooge wollt.« Die Worte ›ausgerechnet heute‹ ließen Hedda aufhorchen. »Wie meinst du das? Haben wir einen wichtigen Termin vergessen?« »Nein, nein. Ihr habt nichts vergessen«, beruhigte der Geheimdienstleiter sie. »Es ist nur so, dass ausgerechnet heute …« Mitten im Satz machte er eine Pause, um hörbar nach Luft zu schnappen. »Jetzt sag nicht, du hast ausgerechnet jetzt einen neuen Fall für uns?«, platzte es aus Hedda heraus. »Das wäre dann nämlich ein echt mieses Timing.«