1. Kapitel
Das Schicksal der Toten
Auf diese Woche hatte sich Hedda schon seit Monaten gefreut. Bereits zu Weihnachten hatte Enno ihr einen gemeinsamen Urlaub in Norddeich geschenkt.
Sieben Tage lang nur wir zwei, dachte Hedda glücklich und schaute verliebt zu Enno hinüber, der ihre Hand hielt und mit ihr gemeinsam über den Deich spazierte. Von hier aus hatte man eine traumhafte Aussicht auf die Nordsee, aber auch die Inseln Norderney und Juist konnte man gut erkennen. Auf der großen Drachenwiese, die Deich und Nordsee voneinander trennte, tummelten sich unzählige Touristen. An diesem Wochenende war wieder einmal Internationales Drachenfest in Norddeich und unter dem wolkenfreien blauen Himmel schwebten wie jedes Jahr unzählige farbenfrohe Drachen in allen Größen und Formen herum.
»Schau mal, die Riesenkrake oder das coole Krokodil da hinten!« Begeistert scannten Ennos Augen das bunte Treiben am Himmel. Immer wenn er dabei etwas Besonderes entdeckte, wies er mit ausgestrecktem Arm darauf, um es auch Hedda zu zeigen.
Aber Hedda hatte zwischenzeitlich etwas ganz anderes entdeckt. Etwa drei Meter von ihr entfernt stand eine junge Frau, die sie mit absoluter Sicherheit noch nie gesehen hatte. Wie die Umherstehenden hatte auch sie den Blick zum Himmel gerichtet, sah dabei aber – anders als alle anderen – sehr traurig aus. Hedda verspürte plötzlich in ihrem Inneren den unbändigen Drang, auf sie zuzugehen und mit ihr zu sprechen. Dabei wusste sie nicht einmal, worüber sie sich mit der fremden Person unterhalten sollte.
Dieses eigenartige, aber bestimmende Gefühl hatte sie bisher nur ein einziges Mal verspürt. Das war vor etwa eineinhalb Wochen gewesen, als sie mit Bento Frerichs neben der Leiche einer jungen Frau stand, die er zuvor aus der Gerichtsmedizin in Oldenburg überführt hatte. Die Eltern der Toten wollten ihre Tochter bei sich in Neermoor beerdigen lassen. Sie war das Opfer einer Vergewaltigung mit anschließender Strangulation geworden. Der Mord war genau hier in Norddeich geschehen. Konnte das ein Zufall sein?
Als Hedda zum ersten Mal neben dem Leichnam gestanden und mit den Vorbereitungen auf die Beerdigung begonnen hatte, überkam sie genau dasselbe Gefühl wie jetzt. »Ich komme gleich wieder«, sagte sie zu Enno und ging auf die junge Frau zu. Als sie noch einen guten Meter von ihr entfernt war, senkte die unbekannte Person plötzlich den Kopf und schaute ihr direkt in die Augen. Im selben Moment verstärkte sich Heddas seltsames Gefühl um ein Vielfaches.
Auch bei der jungen Frau schien Heddas Anblick etwas ausgelöst zu haben. Sie wandte sich in die Richtung, aus der Hedda auf sie zukam, und starrte sie aus großen Augen ungläubig an.
»Kennen wir uns?«, fragte Hedda und vergaß über ihre Verwunderung vollkommen eine freundliche Begrüßung vorwegzuschicken.
»Ich … ich weiß nicht«, stammelte ihre Gesprächspartnerin. »Sie kommen mir eigentlich nicht bekannt vor, aber irgendwie …«
»Aber irgendwie ist da so ein Gefühl, stimmt’s?«, setzte Hedda ihren Satz fort.
Die junge Frau nickte. »Ich heiße Okka«, sagte sie und streckte Hedda die Hand entgegen.
Hedda stellte sich ebenfalls vor und griff nach der dargebotenen Hand.
Als ihre Handflächen sich berührten, durchzuckte beide Frauen eine Art elektrischer Schlag. Es fühlte sich allerdings viel intensiver an als die Sorte Entladung, die man zu spüren bekam, wenn sich einer der Gesprächspartner zuvor elektrisch aufgeladen hatte.
»Kennst du zufällig eine Elske Husmann?« Hedda versuchte, den Namen so beiläufig auszusprechen, als würde es sich dabei nicht um das Mordopfer handeln, dessen Beerdigung sie vor wenigen Tagen noch begleitet hatte.
»Nicht wirklich«, antwortete Okka zögerlich. »Aber ihr Mann und ich sind seit Kurzem ein Paar.«
»Ihr Mann und du?«, fragte Hedda verwundert nach.
»Er hat sich erst vor einigen Wochen von seiner Frau getrennt.« Betreten schaute Okka zu Boden.
»Ach so! Ist er auch hier?«, fragte Hedda und schaute sich suchend um. Es konnte kein Zufall sein, dass sie damals und heute dieses starke Gefühl gespürt hatte und es in beiden Fällen eine Verbindung zu der Toten gab. Sie musste unbedingt mit ihm sprechen. Vielleicht gab es da etwas, was an dem Mord noch nicht aufgeklärt worden war.
»Er … er ist …« Okka brach in Tränen aus.
Tröstend legte Hedda ihr eine Hand auf die Schulter.
»Ist er etwa auch ermordet worden?«, fragte sie betroffen. Ihr kriminalistischer Instinkt lief bereits auf Hochtouren.
Okka blickte wieder auf und schaute sie aus verweinten Augen traurig an. »Er sitzt in Untersuchungshaft. Er soll seine Ex ermordet haben, aber er war es nicht. Er war es ganz sicher nicht! Du glaubst mir doch, oder?«
Erschrocken zuckte Hedda zurück. Mit dieser Antwort hatte sie nun überhaupt nicht gerechnet. Selbstverständlich hatte sie sich damals schon gefragt, wer Elske Husmann derart brutal aus dem Leben gerissen haben könnte, aber Bento Frerichs hatte ihr beigebracht, sich nicht zu sehr für die Geschichten der Toten zu interessieren. Vor allem sollte sie dann nicht zu viel über deren Schicksale nachdenken, wenn sie nicht eines natürlichen Todes gestorben waren.
Auf viele Fragen gibt es zwar auch Antworten, aber wir können und wollen sie deshalb noch lange nicht verstehen, hatte Bento Frerichs ihr immer dann geantwortet, wenn Hedda ihm mal wieder zu viele Fragen nach dem Warum gestellt hatte. Und immer, wenn er ihr diesen Satz zum Nachdenken gegeben hatte, glaubte Hedda, in seinem ansonsten eher regungslosen Gesicht ein tiefes Gefühl der Trauer ausgemacht zu haben. Sie war sich sicher, dass er in diesen Augenblicken sich selbst auch wieder die Frage nach dem Warum stellte. Denn warum seine geliebte Frau ebenfalls viel zu früh aus dem Leben gerissen worden war, konnte und wollte er bis heute nicht begreifen. Alleine deshalb, weil ihn diese Frage offensichtlich wahnsinnig quälte, hatte Hedda sich entschieden, seinen Ratschlag zu beherzigen.
Glücklicherweise hatte Hedda es während ihrer bisherigen Praktikumszeit im Bestattungsinstitut hauptsächlich mit Sterbefällen zu tun bekommen, bei denen Menschen im relativ hohen Alter ihren letzten Atemzug getan hatten. Aber natürlich gab es auch diejenigen, die ihren Kampf gegen schlimme Krankheiten verloren hatten und dadurch viel zu früh aus dem Leben geschieden waren. Auch ein Kleinkind lag einmal im Kühlraum des Bestattungsinstitutes. Es hatte sein junges Leben hergeben müssen, weil ein hirnloser Idiot geglaubt hatte, die Tempo-30-Zone des Wohngebietes sei in Wirklichkeit der Nürburgring. Den Anblick des kleinen leblosen Kinderkörpers würde sie ihr Leben lang nicht mehr vergessen. Seither musste sie bei jedem Raser, dem sie im Straßenverkehr begegnete, wieder an das tragische Schicksal des kleinen Tim denken, und die Frage nach dem Warum quälte sie in diesen Momenten so sehr, dass sie sich immer öfter wünschte, sie hätte niemals erfahren, wie der kleine Junge ums Leben gekommen war.
»Moin, ich bin Enno!«, sagte Enno, nachdem er sich zu ihnen gesellt hatte, und streckte Heddas Gesprächspartnerin die Hand entgegen.
»Okka«, antwortete sie und schüttelte ihm vorsichtig die Hand. Sie wirkte etwas irritiert, hatte sie doch eigentlich immer noch auf eine Antwort von Hedda gewartet.
»Und, woher kennt ihr euch?«, fragte Enno neugierig, noch bevor Hedda die Chance hatte, die Situation aufzuklären.
»Wir … äh …«, stammelte Okka und schaute verunsichert zu Hedda hinüber.
»Wir kennen uns kaum, wir haben nur eine gemeinsame Bekannte«, kam Hedda ihr zur Hilfe. Dann wandte sie sich direkt Okka zu. »Ich kenne die Umstände leider überhaupt nicht, aber ich hoffe, dass es euch bald wieder besser geht.« Sie wusste nicht genau, warum sie ihre Antwort derart kryptisch formulierte, aber sie hatte zu diesem Zeitpunkt irgendwie das Gefühl, Enno nicht erklären zu können, was da gerade zwischen ihnen geschehen war. Mit zusammengepressten Lippen und leicht zuckenden Schultern nickte sie Okka zur Verabschiedung zu, schnappte sich Ennos Hand und zog ihn mit sich.
»Wer ist denn eure gemeinsame Bekannte?«, fragte Enno und drehte seinen Kopf noch einmal über die Schulter, um einen letzten Blick auf Okka zu werfen. Er war sich sicher, dass er die junge Frau noch nie zuvor gesehen hatte.
»Ach, nur jemand von der Arbeit.« Hedda machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Aber hoffentlich keine Leiche?«, lachte Enno. Er hatte diese Frage natürlich nicht ernst gemeint.
Hedda legte ihren Kopf schief und schaute ihn aus den Augenwinkeln heraus ertappt an.
»Echt jetzt?« Enno zog überrascht die Augenbrauen hoch.
Hedda nickte. Auch wenn sie noch nicht wusste, ob und wie sie Enno das Gefühl erklären sollte, das sie zu der jungen – ihr bis dato vollkommen unbekannten – Frau geführt hatte, so wollte sie ihn doch auch nicht anlügen.
»Oje, dann war das ja sicher kein schönes Gespräch. Ich habe mich schon gewundert, warum diese Okka so verkniffen dreingeblickt hat«, analysierte Enno die Situation nachträglich. »Wollen wir eine Kleinigkeit essen? Ich habe einen Bärenhunger.«
Glücklich über den spontanen Themenwechsel willigte Hedda ein. Sie wollte Enno wirklich die Wahrheit sagen, aber sie hatte ja selbst noch genug damit zu tun, wirklich zu verstehen, was da eben mit ihr geschehen war.
Während sie direkt am Wasser entlangflanierten, ließ Hedda ihren Blick über die wogenden Wellen gleiten. Die Mittagssonne spiegelte sich auf der Wasseroberfläche und ließ die Nordsee aussehen, als würden unzählige kleine Diamanten auf ihr schwimmen. Die regelmäßigen Brisen, die von der Meerseite aus zu ihnen herüber strömten, brachten nicht nur eine willkommene Abkühlung, sondern auch noch den typisch salzigen Nordseegeruch mit sich.
Etwas oberhalb der Küstenline erblickte Enno ein längliches Gebäude, an dessen Seite eine Art Aussichtsturm angebaut worden war, der von seiner Optik stark an einen Leuchtturm erinnerte. Eine metallische Wendeltreppe führte die Touristen über drei Ebenen nach oben und bot ihnen von dort aus die Möglichkeit, mit einem Fernrohr nicht nur die Nordsee, sondern auch die vorgelagerten Inseln Norderney und Juist genauer in Augenschein zu nehmen. Die Fassade des Gebäudes war mit blauen und weißen Kacheln verziert, in deren Mitte sich eine breite Fensterfront befand.
»Sieht eher aus wie ein Hallenbad«, bemerkte Hedda skeptisch.
»Wollen wir trotzdem mal nachsehen, ob wir dort etwas Essbares bekommen?«, fragte Enno.
Sie gingen den schmalen Weg hinauf, der direkt zu dem erspähten Gebäude führte. Rechts von ihnen lag der Sandstrand mit seinen unzähligen weißen Strandkörben. Aufgrund des herrlichen Wetters und des Drachenfestes wimmelte es hier nur vor Touristen und Tagesgästen.
»Was ist denn das?«, fragte Hedda verwundert. »Fahren hier etwa auch Busse? Der Weg ist dafür doch viel zu schmal.« Sie zeigte auf die drei unterschiedlich farbigen Schilder, die mit einigen Metern Abstand den Rand des Weges säumten und von ihrer Form her tatsächlich an Bushaltestellenschilder erinnerten.
»Das glaube ich nicht!«, sagte Enno und ging näher an eines der Schilder heran. »Da stehen die Zeiten drauf, wann man Wattwanderungen machen kann. Jeder Wattführer hat sein eigenes Schild«, erklärte er Hedda schließlich, nachdem er die Beschriftung kurz überflogen hatte.
»Das sollten wir unbedingt auch noch machen.« Hedda rieb sich begeistert die Hände. »Meine letzte Wattwanderung liegt mindestens zehn Jahre zurück. Ich kann mich kaum noch daran erinnern.«
»Einverstanden! Aber jetzt will ich erst einmal etwas essen.« Enno nahm ihre Hand und zog sie hinter sich her die leichte Steigung hinauf.
Als sie das Gebäude erreicht hatten, bemerkte Hedda zunächst einen überdimensionierten Holzstuhl, der den Gästen die Möglichkeit bot, sich darauf fotografieren zu lassen. Neben dem originellen Fotoeffekt bekam man zusätzlich auch noch einen traumhaften Hintergrund aus Deichgrün, Sandstrand und Nordsee inklusive. Auf der Rückenlehne war ein ovales Schild angebracht.
Moin im Haus des Gastes Norddeich, las Hedda die Beschriftung. »Machst du ein Foto mit mir?« Hedda wartete nicht auf Ennos Antwort, sondern steuerte direkt auf den nächsten Touristen zu, der ihr entgegenkam, und drückte ihm mit ein paar erklärenden Worten ihr Smartphone in die Hand. Dann kletterte sie auf den Holzstuhl hinauf. »Was ist, kommst du?«, rief sie Enno auffordernd zu.
Gequält erklomm jetzt auch Enno das viel zu groß geratene Möbelstück. Die Blicke der vielen Leute, die an den Bierzeltgarnituren auf der großflächigen Außenterrasse verteilt saßen, waren ihm sehr unangenehm. Aber Hedda hatte kein Erbarmen, sie zog ihn zu sich heran, schwang ihre Beine über seinen Schoß und drückte ihre Wange ganz fest an seine.
»Bitte lächeln!«, rief der Mann, dem Hedda das Smartphone in die Hand gedrückt hatte, so laut, dass jetzt auch diejenigen ihre Köpfe herumdrehten, die es bisher noch nicht getan hatten. Sein starker Dialekt entlarvte ihn eindeutig als Sachse. Dann machte er einige Aufnahmen und gab das Handy an Hedda zurück.
»Na, das mit dem Lächeln müssen wir aber noch üben«, grinste sie Enno an, nachdem sie sich die Ergebnisse des Fotoshootings angeschaut hatte.
»Du meinst, wir machen so etwas jetzt öfter?« Ennos Gesicht sprach Bände. Es war ihm deutlich anzusehen, wie wenig er von einer vergleichbaren Wiederholung hielt.
»Aber sicher werden wir das, schließlich wollen wir unseren Enkelkindern doch später einmal zeigen können, was für supercoole junge Leute ihre Großeltern mal waren.« Hedda grinste und auch Enno konnte ein Schmunzeln nicht mehr unterdrücken.
Nachdem sie beide eine Kleinigkeit beim Imbiss bestellt und ebenfalls an einer der Bierzeltgarnituren verdrückt hatten, besprachen sie die weitere Tagesplanung und beschlossen, als Nächstes die Seehundstation zu besuchen. Auf die niedlichen Nordseebewohner mit den großen schwarzen Knopfaugen freute sich Hedda nämlich am allermeisten.
Auf dem Weg zur Seehundstation entdeckte Hedda einen Wegweiser, der ihr sehr bekannt vorkam. Er wies den Leuten den Weg zum nahe liegenden Wattenmeer, aber auch zum weit entfernten Great Barrier Reef, den Rocky Mountains oder dem Grand Canyon.
»Genau das gleiche Schild habe ich auch schon auf Langeoog gesehen«, sagte sie zu Enno.
»Wahrscheinlich findest du so eines an jedem Küstenort entlang der Nordsee«, lachte er.
Die Seehundstation war ein moderner Klinkerbau mit gläsernem Vorbau. Seehunde, die ihre Mutter verloren hatten – sogenannte Heuler –, wurden nach einer Quarantänezeit hier aufgenommen. Zunächst brachte man ihnen bei, ganze Fische zu schlucken. Anschließend mussten sie dann in größeren Becken lernen, ihre Nahrung selbstständig zu fangen. Erst wenn sie wirklich fit genug waren und auch genügend Gewicht zugelegt hatten, wurden sie schließlich wieder in die Nordsee entlassen. Nicht zuletzt durch Einrichtungen wie diese war es gelungen, die Seehundpopulation im niedersächsischen Wattenmeer in den letzten fünfundzwanzig Jahren von unter dreitausend auf fast zehntausend Exemplare zu steigern.
Nachdem Enno den Eintrittspreis für beide bezahlt hatte, zog es Hedda sofort zu der breiten Glasfront, durch die man die im Außenbereich lebenden Seehunde betrachten konnte. Auf einer kleinen Tribüne konnten die Besucher Platz nehmen und dabei sowohl das tierische Treiben an Land als auch unter Wasser verfolgen. Die Seehundstation war gut besucht, aber glücklicherweise entdeckte Hedda noch genau zwei nebeneinander liegende freie Plätze. Aus Angst, die Sitzmöglichkeiten könnten schnell wieder belegt sein, sicherte sich Hedda sofort einen von ihnen und signalisierte Enno, schnell zu ihr zu kommen. Doch der deutete an, zunächst noch einem dringenden Bedürfnis nachgehen zu müssen.
Stattdessen kam ein älterer Herr auf Hedda zu und fragte, ob der Platz neben ihr noch frei wäre. Er schien wirklich nicht mehr besonders gut zu Fuß zu sein, weshalb Hedda ihm den Platz nicht vorenthalten wollte. Schließlich wusste sie ja auch nicht, wann Enno gedachte, sich endlich zu ihr zu setzen.
Wenn der werte Herr Frerichs etwas Besseres vorhat, hat er eben Pech gehabt, dachte Hedda trotzig und rückte noch ein wenig weiter zur Seite, damit sich der alte Mann neben sie setzen konnte. Dann ließ sie ihren Blick über die Außenanlage schweifen. Einige Seehunde lagen faul am Beckenrand und dösten in der Sonne, andere tauchten durch das grünlich schimmernde Wasser und einer schwamm senkrecht wie ein Korken mit geschlossenen Augen an der Wasseroberfläche.
»Sieht aus, als würde er schlafen, stimmt’s?«, sprach der alte Mann Hedda von der Seite an.
»Tut er das denn nicht?«
»Nein, er relaxt nur ein wenig. Wenn die Tiere draußen in tieferen Gewässern auf Beutezug sind, legen sie auch häufiger mal so eine Ruhepause ein, um wieder zu Kräften zu kommen. Sie haben aber dennoch nicht ganz unrecht, Seehunde können auch im Wasser schlafen. Im flachen Wasser lassen sie sich dann einfach auf den Grund sinken«, erklärte er weiter.
»Müssen die denn gar keine Luft holen?«, fragte Hedda erstaunt.
Der alte Mann lachte so herzlich auf, dass seine grauen buschigen Augenbrauen dabei auf und ab wippten. »Nach etwa sieben Minuten kommen sie automatisch wieder an die Oberfläche, ohne dabei wirklich aufzuwachen. Dann holen sie kurz Luft und lassen sich erneut auf den Boden sinken.«
Hedda lächelte ihren sympathischen Gesprächspartner an. Beim Erzählen strahlte er eine Lebensfreude aus, wie Hedda sie zuletzt bei Digna, der Ersatz-Oma ihrer Freundin Gesa, gesehen hatte. Als sie der alten Dame zum ersten Mal auf Langeoog begegnet war, war sie ebenfalls sofort von ihrer positiven Ausstrahlung begeistert gewesen. »Sie wissen ganz schön viel über Seehunde.«
Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht, wurde aber sofort von einem schelmischen Grinsen abgelöst, wie man es eher von einem Teenager erwartet hätte. »Nun, wenn ich ehrlich bin, ist das kein Wunder. Ich bin mindestens einmal pro Woche hier und kenne die Ausstellung quasi auswendig. Als alter Witwer muss man sich ja irgendwie die Zeit vertreiben.«
Als er den letzten Satz ausgesprochen hatte, bemerkte Hedda plötzlich eine Traurigkeit in seinen Augen, die zuvor nicht zu sehen gewesen war. Bestimmt hat er gerade an seine verstorbene Frau gedacht. Es muss schwer sein, wenn man das ganze Leben zusammen verbracht hat und die letzten Lebensjahre plötzlich alleine dasteht, dachte sie. »Ich finde das furchtbar interessant, können Sie mir noch mehr über die Seehunde erzählen?«, fragte Hedda. Sie hoffte einerseits, ihn so von seinen traurigen Gedanken ablenken zu können, andererseits brannte sie tatsächlich darauf, noch mehr über diese faszinierenden Tiere zu erfahren.
Schlagartig kehrte die Lebensfreude in die Mimik des Alten zurück. »Seehunde waren lange die einzigen Robben im Wattenmeer. Seit einigen Jahren sind aber auch wieder Kegelrobben hier, die von den Britischen Inseln zugewandert sind. Beide Arten gehören zur Familie der Hundsrobben und sind eng miteinander verwandt. Noch ist die Anzahl der Kegelrobben aber viel geringer als die der Seehunde. Aber archäologische Funde belegen, dass dies früher auch schon anders gewesen ist.«
Plötzlich tauchte Enno wieder an der Seite der Tribüne auf. Etwas hilflos schaute er zu Hedda hinüber, da kein einziger freier Platz mehr zu finden war. Der alte Mann hatte seinen suchenden Blick ebenfalls aufgeschnappt. Ohne ein Wort erhob er sich mühsam von seinem Sitzplatz.
»Sie wollen schon wieder gehen?«, fragte Hedda enttäuscht. Sie hätte das Gespräch zu gerne noch fortgesetzt. Die Begeisterung, mit welcher der alte Mann über die Seehunde berichtete, war schließlich tausendmal besser, als sich die ganzen Informationen hinterher mühsam von den leblosen Informationstafeln ablesen zu müssen.
»Ich möchte Sie nicht länger mit meinen Erzählungen langweilen. Außerdem bin ich mir sicher, dass der junge Mann da drüben Ihnen auch noch eine Menge zu sagen hat.« Mit einem zufriedenen Lächeln zwinkerte er Hedda vielsagend zu. »Wissen Sie, Seehunde sind eigentlich Einzelgänger und scharen sich nur zu ihrem eigenen Schutz auf den Sandbänken zusammen. Aus eigener Erfahrung kann ich Ihnen nur raten, machen Sie es anders! Der Mensch ist nicht zum Alleinsein bestimmt.« Mit leicht schmerzverzerrtem Gesicht presste er sich seine Hand ins Kreuz und drückte den Rücken gerade.
Hedda wollte zu gerne noch etwas Aufmunterndes zu ihm sagen, aber ihr fielen einfach nicht die richtigen Worte ein. Stattdessen konnte sie nur den Abschiedsgruß des alten Mannes erwidern und zusehen, wie er sich langsam zum Rand der Tribüne vorarbeitete. Als er an Enno vorbeiging, blieb er kurz stehen und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Was hat er denn zu dir gesagt?«, fragte Hedda neugierig, noch bevor Enno sich auf den frei gewordenen Platz neben sie setzen konnte.
»Er hat mir zugeflüstert, dass ich großes Glück mit dir haben würde. Und dann hat er noch gesagt, dass du mich genauso verliebt anschauen würdest, wie seine Frau es immer bei ihm getan hat.«
Die liebevollen Worte des alten Mannes lösten bei Hedda eine Gänsehaut aus, und sie musste sich schnell eine Träne aus den Augenwinkeln wischen, die sie in diesem Moment einfach nicht unterdrücken konnte.
»Ist alles okay mit dir?« Besorgt legte Enno seine Hand auf ihren Oberschenkel.
»Alles okay!«, beruhigte ihn Hedda. »Ich bin gerade nur ein wenig emotional.« Sie wischte sich die verbliebene Feuchtigkeit aus den Augen. »Wo warst du überhaupt?«
»Ich … ich hatte plötzlich so Magenkrämpfe. Wahrscheinlich ist mir das Essen nicht bekommen«, druckste Enno um das eigentliche Problem herum.
»Durchfall?«, fragte Hedda direkt und auch etwas zu laut nach. Sie fand, dass ihre Beziehung nach fast einem halben Jahr an dem Punkt angekommen war, an dem man auch über notwendige Körperfunktionen durchaus offen sprechen durfte.
Enno lief sofort knallrot an und nickte kaum merklich.
»Geht’s dir denn jetzt besser?«, fragte Hedda, dieses Mal jedoch im Flüsterton.
Wieder nickte Enno nur stumm.
Sie drückte ihm einen herzhaften Kuss auf die Wange. »Wollen wir uns den Rest der Ausstellung noch ansehen oder möchtest du lieber nach Hause?«
Sie blieben noch eine halbe Stunde, sahen sich gemeinsam die übrigen Ausstellungsstücke an und lasen die Informationstafeln, die an den Wänden hingen. Vieles davon hatte Hedda schon von dem alten Mann gehört. Er musste wirklich schon sehr oft hier gewesen sein. Anschließend gingen sie zurück in ihre Ferienwohnung, tranken Tee und aßen ein Stück Kuchen, das sie sich unterwegs noch gekauft hatten. Die Wohnung war klein und sehr spartanisch eingerichtet. Wohnzimmer, Schlafzimmer, Bad – das war’s. Aber Hedda gefiel sie trotzdem. Sie brauchte nicht viel. Für sie zählte nur, dass Enno bei ihr war.
»Ist schön hier, oder?«, fragte Hedda und nippte vorsichtig an ihrer Teetasse.
»Freut mich, dass dir dein Geschenk gefällt«, antwortete Enno zufrieden.
»Gefällt es dir denn nicht?«
»Doch, sehr sogar.« Enno lächelte sie glücklich an.
»Gesa hat mich letztens gefragt, ob ich sie Mitte Juni noch mal für ein paar Tage auf Langeoog besuchen möchte. Hättest du vielleicht Lust mitzukommen?«
Enno dachte kurz nach. »Mitte Juni, Mitte Juni«, überlegte er laut. »Irgendwas war doch Mitte Juni.« Nachdenklich kraulte er die kurzen Bartstoppeln, die er seit dem Beginn ihres Urlaubes in seinem Gesicht gezüchtet hatte. Er hatte sich bereits seit vier Tagen nicht mehr rasiert. »Jetzt weiß ich es wieder, da mache ich mit Lübbo und Henning eine Radtour nach Rußland. Den genauen Zeitraum habe ich mir im Handy notiert. Ich kann gleich mal nachsehen, wenn du willst.«
Lübbo und Henning waren Arbeitskollegen von Enno. Hedda hatte die beiden Namen schon häufiger gehört, wenn Enno ihr von seinen Erlebnissen während der Dienstzeit berichtet hatte. Sie hatte beide zwar noch nie persönlich kennengelernt, aber Ennos Erzählungen nach zu urteilen, waren sie ganz normale Männer. Eine derart verrückte Idee hätte sie daher bis gerade eben noch keinem der drei zugetraut. »Du machst was?«, fragte sie daher ungläubig.
»Wir fahren mit dem Rad nach Rußland, um uns dort das erste Gruppenspiel der deutschen Nationalmannschaft anzusehen. Bald beginnt doch die Fußball-Weltmeisterschaft.«
»Das weiß ich, aber da könnt ihr doch nicht mit dem Rad hinfahren. Da müsstet ihr ja heute schon losradeln und wärt wahrscheinlich trotzdem nicht mehr pünktlich da.«
»Ach was«, grinste Enno. »Die Strecke schaffen wir locker in zwei bis drei Stunden. Inklusive Trinkpausen natürlich.«
»Du willst mich verarschen, oder?« Hedda lehnte sich in ihren Stuhl zurück, verschränkte ihre Arme vor der Brust und schaute Enno aus zusammengekniffenen Augen an. Mittlerweile kannte sie zwar seinen trockenen Humor, trotzdem wusste sie manchmal nicht, ob er es ernst meinte oder sie wieder einmal nur aufzuziehen versuchte.
»Wenn Deutschland das Spiel verliert, wollen wir übrigens noch weiter nach Amerika fahren.« Ennos Grinsen wurde noch ein bisschen breiter. Er fand immer mehr Gefallen daran, Hedda ein wenig zu ärgern.
»Mit dem Rad kann man von Rußland aus überhaupt nicht nach Amerika fahren. Zumindest nicht, ohne zwischenzeitlich ein Schiff zu benutzen«, reagierte Hedda jetzt schon etwas ungehalten. Sie fand, dass Enno ihr langsam wirklich mal erklären konnte, was er da mit seinen Freunden geplant hatte. Von einer derartig aufwendigen Reise hätte er ihr doch wenigstens mal etwas erzählen können.
Auch Enno spürte, dass er jetzt lange genug seinen Spaß mit ihr gehabt hatte. Er wollte sie lieber nicht zu sehr ärgern. Sie hatten zwar in ihrer jungen Beziehung noch nicht oft miteinander gestritten, aber von den wenigen Malen, wo sie aneinandergeraten waren, wusste er, dass mit Hedda dann nicht mehr gut Kirschen essen war. »Ursprünglich wollte ich dich wirklich nicht veralbern, aber ich habe ganz vergessen, wie lange du nicht in Ostfriesland gelebt hast.«
»Was haben denn Rußland und Amerika jetzt bitte schön mit Ostfriesland zu tun?«, schmollte Hedda.
»Rußland ist ein Ortsteil der Gemeinde Friedeburg«, begann Enno zu erklären. »Friedeburg liegt zwischen Wittmund und Wiesmoor. Lübbo hat zufällig gehört, dass das ARD-Morgenmagazin zur WM-Zeit von dort aus seine Sendungen überträgt. Als wir mal wieder eine langweilige Nachtschicht zusammen hatten, hat er mir dann davon erzählt. Und da in den folgenden Stunden auch nicht wirklich etwas Spannendes passiert ist, fassten wir irgendwann den Entschluss, gemeinsam mit Henning eine Radtour dorthin zu machen. Zukünftig können wir dann nämlich auch allen Nicht-Ostfriesen …« Er machte eine kurze Redepause und schaute Hedda schelmisch grinsend an. »… und den Ostfriesen, die sich nicht so gut auskennen …« Er zwinkerte ihr frech zu. »… erzählen, dass wir eine Radtour nach Rußland gemacht haben. Die meisten reagieren dann nämlich genauso irritiert wie du, wenn man ihnen das erzählt.«
»Haha, sehr witzig.« Hedda mochte es gar nicht, wenn man sich über ihre Unwissenheit bezüglich ihrer ostfriesischen Heimat lustig machte. Was konnte sie denn dafür, dass ihre Eltern sie gezwungen hatten, für mehrere Jahre in Bremen zu leben? »Hätte der Herr Oberostfriese denn vielleicht auch noch die Güte, mich über seine Amerika-Bemerkung aufzuklären?«, schob sie etwas schnippisch hinterher.
»Amerika gehört ebenfalls zur Gemeinde Friedeburg. Die Entfernung zwischen den beiden Ortsteilen beträgt nur etwa sieben Kilometer. Frag mich nicht, wer sich den Quatsch ausgedacht hat.«
»Ach, das sollte man als echter Ostfriese aber schon wissen«, foppte Hedda jetzt ihrerseits zurück.
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